Gastbeitrag von Daniel Ristau
Das Interview ist Teil der begleitenden Blog-Reihe zur Intervention Rethinking Stadtgeschichte: Perspektiven jüdischer Geschichten und Gegenwarten in der Dauerausstellung des Stadtmuseums Dresden 2021/2022. Angesichts der aktuellen Überlegungen zu einem Jüdischen Museum für Sachsen kommen an dieser Stelle Akteurinnen und Akteure, die sich mit dem Thema beschäftigen, Vertreterinnen und Vertreter der jüdischen Gemeinden in Sachsen, von Politik und Gesellschaft sowie Expertinnen und Experten mit ihren Standpunkten, Ideen, Kritiken und Perspektiven zu Wort.
Zur Einführung in die aktuelle Museumsdebatte
Zur Person:
Wolfram Nagel stammt aus dem thüringischen Gleicherwiesen. Als Kulturjournalist arbeitet er für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. 2009 trat er zum Judentum über, mit dem er sich seit seiner Kindheit verbunden fühlt. Seit 2016 engagiert sich der gelernte Bauingenieur für den Erhalt des Alten Leipziger Bahnhofs als Technisches Denkmal in Dresden und als Standort für ein Jüdisches Museum.
(1) Was halten Sie von der Idee, ein „jüdisches Museum“ in Sachsen einzurichten?
Ich denke, es ist höchste Zeit ein solches Museum zu gründen. Nirgendwo in Sachsen wird die reiche jüdische Geschichte museal präsentiert. Dabei gäbe es viel zu erzählen, von den ersten Gemeinden im Mittelalter, beispielsweise in Meißen oder Görlitz, den jüdischen Händlern in Leipzig, den Hofjuden der Kurfürsten im 18. Jahrhundert oder über das jüdische Bürger- und Unternehmertum im 19. Jahrhundert, um nur ein paar Themen anzureißen. Ein Verein sucht seit 2014 in Dresden nach einem geeigneten Ort für das Museum, stieß aber immer wieder auf Widerstand. Argumente wie, „Noch ein Museum, nein Danke!“ oder „Wer soll das bezahlen?“ halte ich für kurzsichtig. Insofern bin ich froh, dass sich der Dresdner Stadtrat im April 2021 einstimmig für das Projekt ausgesprochen hat.
(2) Wo und wie sollte jüdische Geschichte und Gegenwart zugänglich gemacht werden?
Für mich wäre der Alte Leipziger Bahnhof ein ideales Museumsgebäude. Weil vom ehemaligen Güterbahnhof Dresden Neustadt 1942 die Deportationszüge abfuhren, ist das Gebäude zuallererst ein Gedenkort an die Shoah. Als Empfangsgebäude der 1839 eingeweihten ersten deutschen Ferneisenbahn zwischen Dresden und Leipzig ist der Bahnhof vor allem auch ein technisches Denkmal. Allerdings haben es die Deutsche Bahn und der heutige private Eigentümer sträflich vernachlässigt, sodass nach 30 Jahren Verfall nur noch die Außenmauern erhalten geblieben sind. Es wäre ohnehin Aufgabe des Landes Sachsen und der Stadt Dresden, das Denkmal zu retten. Da stellte sich sofort die Frage nach einer angemessenen Nutzung. Weil das Verkehrsmuseum Dresden kein Interesse daran hat und lieber in der Innenstadt bleiben möchte, ergibt sich die einmalige Chance, hier ein jüdisches Museum zu etablieren, das auch Begegnungsstätte für jüdische Kultur und Geschichte sein könnte. Weil die jüdische Gemeinde diese Aufgabe aus Sicherheitsgründen – insbesondere nach dem Anschlag von Halle 2019 – kaum noch erfüllen kann, müsste ohnehin ein neuer Ort dafür gefunden werden. Infrage käme auch das Palais Oppenheim, dessen Wiederaufbau vom Gottfried-Semper-Club angestrebt wird. Der im Krieg zerstörte Bau existiert derzeit nur auf dem Papier. Der Alte Leipziger Bahnhof hingegen ist real vorhanden.
Sollte das Gelände als Wohngebiet entwickelt werden, könnte im Bahnhof samt Ruine des Lokschuppens (auch in Kooperation mit der Blauen Fabrik, ein kulturelles Zentrum entstehen, mit Café, Museumsladen und einem attraktiven Veranstaltungssaal.
(3) Was kann und was sollte präsentiert werden?
Als Landesmuseum sollte ein Bogen gespannt werden von der Ansiedlung erster Juden in Sachsen vor etwa 1000 Jahren bis zur Zuwanderung aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nach 1990. Schwerpunkt aber müsste die Emanzipation jüdischer Bürger im 19. Jahrhundert sein, die sehr eng mit der industriellen und kulturellen Entwicklung einher ging. Der Alte Leipziger Bahnhof entstand schließlich zeitgleich mit der Sempersynagoge.
Teilaspekte wären sicher auch die Pogrome im späten Mittelalter, der christliche Antijudaismus Luthers und die Shoah, doch darzustellen, wie sich Juden in sächsischen Städten als Teil der Gesellschaft verstanden und von dieser auch akzeptiert wurden, sollte vorrangiges Anliegen des Museums sein. Ein anschauliches Bild böten die Gleise der Eisenbahn. Sie zeigen die Verbindungen jüdischer Familien zu den großen Zentren von Industrie, Handel, Kultur oder Religion wie Frankfurt am Main, Berlin, Breslau und Prag. Sie symbolisieren auch die Migrationsströme jüdischer Menschen beispielsweise aus Osteuropa.
Vielleicht könnte auf einem Gleis hinter dem Bahnhof sogar der „Zug der Erinnerung“ einen Platz bekommen, der bis 2013 durch viele deutsche Städte fuhr.
(4) Wer soll erreicht werden?
Zuallererst sollten junge Leute angesprochen werden, also insbesondere Schülerinnen und Schüler, Auszubildende und Studierende. Gelegentliche Besuche einer Synagoge reichen nicht aus, um ein komplexes Bild jüdischer Geschichte, Religion und Kultur zu vermitteln. Bildung und Begegnungen sind die besten Mittel, um antisemitische Klischees abzubauen und jeder Art von Fremdenfeindlichkeit vorzubeugen. Darüber hinaus sollte dieser Ort natürlich allen Menschen offenstehen.
Besucherinnen und Besucher aus aller Welt sollten nicht nur nach Dresden kommen, um sich die Kunst und die Frauenkirche anzuschauen, auch das Jüdische Museum wäre dann sicher eine Reise wert.
(5) Wenn Sie ein museales Objekt auswählen könnten, das Sie als besonders aussagekräftig für Geschichte und Gegenwart jüdischen Lebens halten, welches wäre das – und warum?
Für mich wären die Lebensläufe jüdischer Menschen, die hier gelebt haben und leben, wichtig, etwa die der Familie Aris. Helmut Aris war Präsident des Verbandes der jüdischen Gemeinden in der DDR, Heinz-Joachim Aris, sein Sohn, Vorsitzender des Landesverbandes Sachsen der jüdischen Gemeinden nach der Wende. Seine Schwester Renate Aris, die Tochter Helmut Aris’, gehört bis heute zur Jüdischen Gemeinde Chemnitz. Ihre Biografien erzählen, wie jüdisches Leben auch nach dem Zweiten Weltkrieg wieder möglich wurde, wenn auch unter Schwierigkeiten.
Als Helmut Aris 1987 starb, schienen auch die jüdischen Religionsgemeinschaften in der DDR langsam auszusterben. Doch es kam anders, durch die Zuwanderung von Juden aus Osteuropa, Israel und Amerika. Diese neue Vielfalt zeigt bereits der Blick auf Persönlichkeiten der sächsischen jüdischen Gemeinden:
Heinz-Joachim Aris, der 2017 verstarb, repräsentierte jüdisches Leben nach der Wende. So wurde in seiner Zeit als Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde zu Dresden die 2001 geweihte Neue Synagoge gebaut.
Küf Kaufmann, Vorsitzender der der Israelitischen Kultusgemeinde zu Leipzig, ist ein Beispiel, wie sich Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion integriert haben.
Ruth Röcher, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Chemnitz, studierte als junge Israelin noch vor der Wende in Deutschland und fand hier ihre große Liebe.
Der Musiker Michael Hurshell aus den USA ist heute Vorsitzender der Dresdner Gemeinde.
(6) Was sollte in der Debatte um ein Jüdisches Museum als nächstes passieren?
Nach dem Dresdner Stadtratsbeschluss sollte Oberbürgermeister Dirk Hilbert endlich ein klares Bekenntnis zu dem Projekt abgeben. Auch die sächsische Staatsregierung sollte sich eindeutig dazu positionieren und das Museum fördern. Perspektivisch könnte man auch den Bund und die Europäische Union um Hilfe bitten.
Entscheidend wäre jedoch die Übernahme des Bahnhofsgeländes durch die Stadt. Nur so bekäme das Museumsprojekt eine reale Chance. Sollte das Palais Oppenheim tatsächlich rekonstruiert werden, böte sich eine weitere Möglichkeit.
Die Fragen stellte Daniel Ristau.