Zur Ausstellung „Heinrich Tessenow. Architektur und Möbel“
Heinrich Tessenow leistete im frühen 20. Jahrhundert einen wichtigen Beitrag zur Architekturreform, in Dresden gelang ihm mit dem Festspielhaus Hellerau der Durchbruch. Zum ersten Mal seit über 30 Jahren ist Tessenows Werk nun wieder umfangreich zu sehen (www.stmd.de/tessenow). Die Schau basiert auf dem von Martin Boesch (Zürich) über viele Jahre zusammengetragenen und 2022 in Mendrisio ausgestellten Material (www.heinrich-tessenow.ch). Für die hiesige Präsentation wurden die Dresdner Bauten und Projekte zusätzlich vertieft. Tessenows Wirken in Dresden erfolgte in zwei Phasen, die hier vorgestellt werden sollen.
Kurzer biografischer Abriss
Geboren wurde Heinrich Tessenow 1876 in Rostock als Sohn eines Zimmermanns, dessen Handwerk er auch erlernte. Es wurde – obwohl er eigentlich Lehrer hatte werden wollen – zu seiner Berufung: In Schriften und Projekten sollte er Zeit seines Lebens das Handwerk als vorbildlich aufzeigen. An Baugewerkschulen und als Gasthörer an der Technischen Hochschule München bildete Tessenow sich zur Architektur weiter. Ab 1902 konnte er selbst Lehraufträge annehmen. Seine außergewöhnliche zeichnerische Begabung nutzte er parallel zur Illustration von Texten fremder und schließlich auch eigener Werke.
Dies ebnete ihm den Weg nach Dresden: 1909 wurde er Assistent von Martin Dülfer an der Technischen Hochschule und begann parallel als freier Architekt, an der Gartenstadt Hellerau mitzuwirken. Dort konnte er 1911 das sogenannte Festspielhaus errichten.
1913 lockte ihn eine Professur an die Kunstgewerbeschule nach Wien, er blieb aber im engen Austausch mit Hellerauer Sozialreformern. 1919 kehrte er wieder nach Dresden zurück und widmete sich bis 1926 besonders der Lehre an der Akademie der Künste, konnte mit der Handwerkergemeinde in Hellerau ein gesellschaftliches und siedlungsbezogenes Reformprojekt erproben und wirkte an Ausstellungsprojekten mit. 1926 bis 1941 folgte eine umfangreiche Universitätstätigkeit an der Technischen Hochschule und an den Vereinigten Staatsschulen Berlin. Während der NS-Zeit verhielt er sich relativ unauffällig – biederte sich nicht an, opponierte aber auch nicht. Auch ohne NSDAP-Mitgliedschaft konnte er weiterhin als freier Architekt praktizieren und stand auf der „Gottbegnadeten-Liste“ von Joseph Goebbels. Er beteiligte sich an Wettbewerben und lieferte Entwürfe für Staatsprojekte (z. B. Entwurf für ein KdF-Bad auf Rügen, 1936). Bauen konnte er bis zu seinem Tod 1950 nur noch relativ wenig, zu nennen sind vor allem das Stadtbad Mitte in Berlin (1927–1930, mit Bleiglasfenstern von Max Pechstein) und der Umbau der Neuen Wache in Berlin (1930/31).
jeweils paarweise angebracht), 1929, ursprünglich im Stadtbad Mitte, heute Kunstgewerbemuseum Berlin
Die letzten Lebensjahre Tessenows waren gekennzeichnet durch Angebote aus Ost oder West, am Wiederaufbau mitzuwirken. Aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit konnte er jedoch kaum noch darauf eingehen und Projekte entwickeln. Ab 1944 lebte er zunehmend in einer umgebauten „Häuslerei“ in Siemitz/Güstrow.
Tessenows erste Dresdner Phase 1909 bis 1914
Durch seine Veröffentlichungen und ein patentiertes Wandsystem („HT-Wand“) wurden die Initiatoren der Gartenstadt auf den damals in Trier tätigen Architekten aufmerksam und boten ihm eine freiberufliche Mitarbeit an. In den folgenden vier Jahren entwarf er für die Gartenstadt-Gesellschaft verschiedene Haustypen, so dass kleine Wohnhäuser und Villen nach seinen Plänen realisiert wurden.
Aber vor allem gelang Tessenow hier mit dem Festspielhaus der architektonische Durchbruch: Es entstand auf Initiative von Wolf Dohrn (Biografie Wolf Dohrn ISGV e.V.) für die gerade von Émile Jaques-Dalcroze neu entwickelte Bewegungsform Rhythmik. Für den künftigen Rhythmik-Unterricht unter der Leitung von Jaques-Dalcroze sowie Bühnenaufführungen sollte eine Wirkungsstätte geschaffen werden.
Für den Bau konnte 1910 ein Unterstützungskomitee gegründet werden, die Gartenstadtgesellschaft stellte ein Grundstück zur Verfügung und Jaques-Dalcroze, der Bühnenbildner Adolphe Appia, der Maler Alexander von Salzmann und Heinrich Tessenow als Architekt begannen mit den Planungen. Für Tessenow war es das erste Großprojekt. Zwei Vorentwürfe wurden abgelehnt.
Schließlich gruppierte Tessenow für die Bildungsanstalt für rhythmische Gymnastik Schüler:innen- und Lehrer:innenwohnhäuser um einen Platz, der durch den repräsentativen Hauptbau mit Saal dominiert wurde. Für den rückwärtigen Bereich sah er großzügige Grünanlagen vor, die aber nie in diesem Umfang umgesetzt wurden. Im Innern entstand mithilfe tausender Glühbirnen hinter weißen Stoffbahnen ein wirklicher Lichtraum, ein radikal neuer Raum für Musik und Tanz.
Zur Eröffnung 1912 pilgerte die europäische Avantgarde nach Hellerau. Doch der 1. Weltkrieg beendete schnell die einsetzende kulturelle Blüte. Es folgten bis 1992 Umnutzungen. Seit 1992 wird das Ensemble nach und nach saniert und kulturell genutzt, seit 2004 ist es vor allem die Heimat des Europäischen Zentrums der Künste Hellerau.
Tessenows zweite Dresdner Phase von 1919 bis 1926
Ab 1902 bereits unterrichtete Tessenow an Technik- und Gewerbeschulen. 1913 war er schließlich Leiter einer Architekturklasse der Wiener Kunstgewerbeschule geworden. Von dort kam er nach Ende des 1. Weltkrieges wieder nach Dresden zurück, wo er zwar mangels Abitur nicht hatte studieren dürfen, nun jedoch eine Professur für Baukunst an der Akademie der Bildenden Künste übernehmen konnte.
Die Ateliers der Baukunst befanden sich im Cosel-Palais, unmittelbar an der Frauenkirche. Die Quellenlage zu dieser Zeit ist recht dünn und lässt viele Fragen offen. In seiner Antrittsvorlesung mit dem Titel „Das Land in der Mitte“ ging Tessenow überraschenderweise nicht auf die geplante Lehrausrichtung ein, sondern sprach vielmehr über Deutschlands Mittlerrolle innerhalb Europas. Welche Themen behandelt wurden, ist vor allem Schülerarbeiten und Empfehlungsbriefen zu entnehmen.
Auffällig ist, dass sich in den Immatrikulationslisten keine weiblichen Namen finden: Nahm Tessenow – anders als zuvor in Wien, wo Margarete Lihotzky (später Schütte-Lihotzky) seine prominenteste Studentin gewesen war – keine Frauen zum Studium an? In Dresden war u.a. Konrad Wachsmann sein Schüler. Er berichtete von einer Stuhlanfertigung als Aufnahmeprüfung, die ihm eher wie die Prüfung der Handwerkskammer vorkam. Und er erinnerte sich an Tessenows Idee einer Handwerkergemeinde „die unter Leitung eines Meisters zusammen arbeiten, in einem Haus leben und am gleichen Tisch essen. Eine Großfamilie, in der es für Frauen keinen Platz gab.“ [Wachsmann, S. 121]
Seine Ideen zu einer „Handwerkergemeinde“ hatte Tessenow bereits 1918 in Berlin vorgestellt und seine Erläuterungen dazu veröffentlicht. Sie sind geprägt von den Reformbestrebungen, die während des 1. Weltkrieges entstanden. Auch Gropius entwickelte damals sein Bauhaus-Manifest mit starkem Handwerksanteil. Tessenows Vision wurde von Harald Dohrn, Karl Scheffler (Schriftsteller, Kritiker), Roman Woerner (Literaturwissenschaftler) und Gustav Wyneken (Jugendbewegung) ideell unterstützt, von der Schriftstellerein, Mäzenin und Ehefrau Woerners, Hertha König, auch finanziell. 1919 konnte Tessenow damit eine Handwerkergemeinde in Hellerau begründen. Sie bestand aus Handwerksmeistern mit eigenen Werkstätten und Handwerkerfreunden.
In Berlin und Dresden warb er Mitstreiter an: Robert Hilbrich und Ernst Müller (Tischler), Jakob Hegner (Buchdrucker, obwohl er keinen Meistertitel besaß!), Georg von Mendelssohn (Goldschmied), Albert Thomé (Silberschmied), P.A. Demeter (Buchbinder) und Karl Waibel (Färber). Eine Vergrößerung war geplant: Insgesamt sollten maximal 20 Handwerksmeister die Gemeinde bilden. Frauen wies Tessenow jedoch aus einer konservativen Grundhaltung heraus zum „Eigenschutz“ einen traditionellen, eher passiven Part im Hintergrund zu. Aktive Mitglieder durften sie jedenfalls nicht werden. In der Waldschänke Hellerau gab es erbauliche Vorträge von Tessenow und anderen Personen. Eine geplante, breit angelegte Zeitschrift „Der goldene Boden“ konnte nicht realisiert werden.
Neben Lehre und Handwerkergemeinde beteiligte sich Tessenow in Dresden an verschiedenen Bauaufgaben und -projekten und entwarf immer wieder Möbel, auch serienreife Stühle für die Fabrikherstellung. Während und nach dem 1. Weltkrieg geschah dies häufiger im sozialen Engagement, u.a. für „Hausratgesellschaften“ und in Zusammenarbeit mit dem Hellerauer Sozialreformer Percival Booth für „Kriegersiedlungen“ für Kriegsheimkehrer. Die Möbel für die einfachen Häuser, teils auch Wohnlauben, wurden „12 Stückweise mit der Maschine“ hergestellt, um die Kosten gering zu halten. [Sächsische Staatszeitung, 11.06.1919]
Andere Entwürfe bedienten mit hochwertigen Materialien wie Nussbaumholz, Messing oder Seidenstoff ein exklusiveres Segment – auch ein Papierkorb entstand nach seinen Entwürfen. Der Verkauf erfolgte über verschiedene Firmen: die Coburger Firma Fritz & Rüping, die Berliner Firmen Groschkus sowie Deutsche Werke, die Deutschen Werkstätten Hellerau und offensichtlich auch über Genossenschaften. Ganze Raumarrangements wurden in Ausstellungen wie z. B. den Jahresschauen Deutscher Arbeit präsentiert.
Seit 1922 die erste Jahresschau Deutscher Arbeit in Dresden durchgeführt wurde, entwarf Tessenow für sie Innenräume. Besonders beeindruckte damals seine Gestaltung der Internationalen Kunstausstellung 1926, eine Art frühe documenta. Die Zurückhaltung und Geradlinigkeit der mit Stoff bespannten Ausstellungswände war ganz neuartig: schlicht und elegant. Der Clou war jedoch ein begrünter und zum Himmel offener Hof. Temporäre Bauten entstanden 1925 mit der Speisegaststätte Oberbayern und 1926 dem Café am Rosenhof. Von den Bauten ist jedoch nichts erhalten geblieben.
In der Folge erhielt Tessenow ähnliche Aufträge: zum Umbau des Kronprinzenpalais´ in Berlin, für die Erweiterung des Goethehauses in Weimar und für die Internationale Olympia Kunstausstellung in Berlin. Allerdings wurde nur der letzte Auftrag auch umgesetzt.
Auf dem Papier blieb auch das 1925 als Ideenwettbewerb ausgeschriebene Hochhaus für den Dresdner Anzeiger, eine der lokalen Tageszeitungen. Ein Geschäfts- und Bürogebäude mit Hochhaus oder Turm wurde damals für das Eckgrundstück am heutigen Dr.-Külz-Ring/Marienstraße gewünscht. Unter den 215 Wettbewerbsteilnehmern war auch Tessenow. Er verband in seinem Entwurf durch Arkaden, Flachdach und strenge Lochfassade Tradition und Moderne . Durch verschiedene Rücksprünge strebte er die dezente Einbindung in den bestehenden Stadtraum an. Es gab keinen 1. Preis, aber doppelt den 3. und 4. Preis. 7 Entwürfe wurden angekauft, darunter Tessenows.
Es gibt in Dresden aber noch einen damals realisierten, jedoch bis heute recht unbekannten Bau Tessenows: die mit Oskar Kramer realisierte ehemalige Landesschule Klotzsche. Sie ging aus einer Kadettenanstalt hervor, nach dem 1. Weltkrieg wurde sie zivile Internatsschule. 1925 entstand das Gebäude für gut 250 Schüler als streng symmetrischer Bau in einer großen Waldlichtung. Die Schüler- und Lehrerhäuser sowie die Saal- und Schulräume gruppierten sich um einen zentralen Gartenhof. Ein ungewöhnlich hohes Rankgerüst, eine Pergola, verband die Einzelbauten. Es entstanden viele Grünräume für unterschiedliche Nutzungen, für Freiluftsport und -unterricht, aber auch für Hausgärten. Das ursprüngliche Gebäudeensemble besteht heute noch, wurde aber stark überformt.
In Dresden sind zum Glück noch einige Bauten Tessenows zu besichtigen, so dass das Wirken des Reformarchitekten mit auch konservativen Zügen noch im wahrsten Sinne des Wortes begeh- und begreifbar ist. Und das lohnt sich, bietet das Werk doch Einblicke in eine Moderne jenseits des Bauhauses, die durchaus von Bedeutung war und ist.