Gastbeitrag von Dörthe Schimke

Ein kleines Pappheft im Oktavformat, der grau-blaue Umschlag verblichen – als Ausstellungsobjekt im Stadtmuseum wirkt es geradezu unscheinbar. Die meisten würden wohl an diesem Exponat vorbei gehen oder zumindest nicht lange an der Vitrine verweilen. Museumsmacher:innen bezeichnen solche Objekte, die wie Akten, Briefe, Dokumente häufig einen geringen Schauwert besitzen, gern – verbunden mit einem leichten Augenrollen – als „Flachware“. Und doch haben sich die Kurator:innen der Dauerausstellung damals dafür entschieden, das kleine Pappheft in die große Erzählung von der Stadtgeschichte Dresdens aufzunehmen – zu Recht, denn es hat uns so viel zu berichten.

Dienen in Dresden – ein Alltagserwerb

Es handelt sich dabei um ein sogenanntes Gesindezeugnisbuch, das das Arbeitsleben seiner einstigen Besitzerin dokumentiert. Als Zeugnis der Dresdner Sozial- und Alltagsgeschichte steht es für eine Erwerbsgruppe, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert auf den Straßen, Plätzen und nicht zuletzt in den Haushalten der Stadt omnipräsent war: das häusliche Dienstpersonal. Hinter den Kulissen der glanzvollen und auch der durchschnittlichen Bürgerhaushalte der Elbstadt sorgte es für alle anfallenden Arbeiten im Haushalt: Kochen, Putzen, Servieren, Einkaufs- und Botengänge, Kinderbetreuung, manchmal sogar Alten- und Krankenpflege. Dienstpersonal zu beschäftigen gehörte zum guten Ton in dieser Zeit. Zugegeben, die Hausarbeit war damals noch deutlich aufwendiger als sie es heute, unterstützt durch unzählige technische Geräte, ist.

Dienstmädchen Frieda Eulitz mit Lorle, Fotografie von Klinkhardt & Eyssen, Dresden, um 1900, Bildnachweis: Dörthe Schimke Privatbesitz

Der enorme Aufwand, den die Hausarbeit erforderte, brachte auch in Dresden zehntausende, zumeist junge Frauen in Lohn und Brot und bot ihnen ein Dach über dem Kopf, denn in der Regel war das In-Dienst-Gehen mit dem Einzug bei der dienstgebenden Familie verbunden. Im Jahr 1907, als das präsentierte Gesindezeugnisbuch behördlich ausgestellt wurde, waren 16.722 Personen als Dienende in Dresdner Haushalten tätig.1 „In Stellung“ zu sein, wie man zeitgenössisch sagte, war ein fast ausschließlich weiblicher Erwerb, nur 247 Männer verdingten sich etwa als Kutscher, Gärtner oder feine Diener in Livree (Dienstuniform) in Dresden.

Die Bürokratie des Dienens – oder: was ist ein Gesindezeugnisbuch?

Oft kamen die Dienstmädchen gar nicht aus Dresden, sondern vom Land oder aus den umliegenden Kleinstädten. Einfach losziehen und sich einen Dienst suchen, konnten sie allerdings nicht: Genug Stellen gab es zwar (die Zeitungen waren voll von Inseraten und über 60 sogenannte Gesindemäkler2 boten ihre Dienste in Dresden an), aber ohne bürokratischen Aufwand ging es im Königreich Sachsen nicht. Vor Dienstantritt brauchte es ein Gesindezeugnisbuch, das nur die Polizeibehörden ausstellen durften. Das Dokument mit dem langen Namen wurde 1835 sachsenweit zur Vorschrift gemacht und stellte eine Kombination aus Pass und Arbeitszeugnis dar. Bereits die frühneuzeitlichen Gesindeordnungen, die die rechtliche Grundlage für das Dienstverhältnis bildeten, schrieben vor, dass dem Personal Zeugnisse über die geleistete Arbeit auszustellen waren, welche dieses bei Antritt einer neuen Stelle vorzeigen musste. Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts wurde auf den Landtagen die Einführung von Zeugnisbüchern für das Gesinde diskutiert, da die bis dahin üblichen losen Blätter, auch Atteste genannt, leicht gefälscht oder unterschlagen werden konnten. Die Gesindezeugnisbücher entstanden in Anlehnung an die Wanderbücher für Handwerksgesellen.

Wie die staatlich ausgegebenen Arbeitsnachweis- und Passdokumente abgefasst sein sollten, regelte eine Polizeiverordnung.3 Die erste Seite des Buches enthielt den Namen, den Herkunftsort und das Geburtsdatum der Person. Da es bei der Einführung der Bücher 1835 noch keine Passfotos gab, finden wir hier zudem Angaben zum Äußeren des Inhabers/der Inhaberin. Fester Bestandteil des Vordrucks waren zudem Auszüge aus der Gesindeordnung und der Polizeiverordnung. Die zuständigen Behörden bestätigten in den Büchern die korrekte An- und Abmeldung. Was in dem handschriftlich in das Buch einzutragenden Zeugnis enthalten sein sollte, regelte die Gesindeordnung: So sollten Angaben zur Dienstdauer, zur Funktion bzw. Position des Dienenden sowie das Zeugnis über das Verhalten enthalten sein. Wie bei heutigen Arbeitszeugnissen kam es dabei auf gewisse Schlüsselbegriffe an. Dies waren im 19. Jahrhundert schlichtweg andere: Treu, ehrlich und fleißig waren häufig zu lesende Diensttugenden, auf die die nächste Dienstherrschaft bei der Einstellung achtete. Negativ zu verstehende Einträge konnten die Chancen auf einen neuen Dienst ruinieren – die Dienstherrschaften hielten mit dem Gesindezeugnisbuch, das sie in der Regel für ihr Personal auch verwahrten und ohne das kein neuer Dienst angetreten werden durfte, ein mächtiges Druckmittel in der Hand.

Als persönliche Dokumente wurden die Bücher durch die ehemaligen Dienstbot:innen nicht selten auch nach Berufswechsel und Heirat wegen ihres Rechtscharakters oder ihres Erinnerungswerts aufbewahrt. Oft finden sie sich bis heute in Familiennachlässen. Zudem haben sie ihren Eingang in die Bestände von Archiven und Museen gefunden. Das Stadtmuseum Dresden hat in seiner Schriftgutsammlung mehrere solcher Gesindezeugnisbücher, die alle ihre eigene Geschichte erzählen.

Gesindezeugnisbuch von Ernestine Pauline Lange, geb. 1870 in Friedersdorf bei Zittau, tätig als Magd, Dienstmädchen und Fabrikarbeiterin, Stadtmuseum Dresden SMD_SD_1981_09886
Gesindezeugnisbuch von Friedrich Hugo Baer, geb. 1862 in Pesterwitz, tätig als Kuhhirte, Pferdeknecht und Stallbursche, Stadtmuseum Dresden SMD_SD_1981_09888

Eine von über 16.000 – Frieda Theurich geht in Dienst

Nun aber zur Geschichte von Frieda Theurich, der Inhaberin des ausgestellten Büchleins. Die Eintragungen in ihrem Gesindezeugnisbuch zeugen von einer 15-jährigen Laufbahn in den Diensten bürgerlicher Familien. Als eines von über 16.000 Dienstmädchen meldete sie sich am 5. Oktober 1907 – einen Tag nach ihrem 16. Geburtstag – bei der Polizeidirektion Dresden an. Der Beschreibung nach müssen wir sie uns als blondes, schlankes Mädchen mit blauen Augen vorstellen. Wie viele Dienstmädchen kam sie vom Land in die Großstadt: Geboren wurde sie 1891 im 127-Seelen-Dorf Scharre (Turoszów / Bogatynia in Polen) bei Zittau.

Gaststätte Weißes Lamm in Scharre bei Zittau, in diesem Dorf wurde Frieda Theurich geboren, Fotograf unbekannt
Titelseite des Gesindezeugnisbuches von Hausmädchen Frieda Theurich, Stadtmuseum Dresden SMD_SD_1981_09885

Im Oktober 1907 trat sie ihre erste Stelle an. Sie diente hier wohl bei älteren Leuten, denn ihr Dienstgeber war der Königliche Forstrentamtmann a. D. Bernhard Wolframm, der seine Wohnung in der heute aus dem Stadtbild verschwundenen Katechetenstraße hatte, unweit des Pirnaischen Platzes. Er bescheinigte ihr, sich als „treu, ehrlich und fleißig“ erwiesen zu haben. Nur ein Jahr blieb sie in diesem Dienst. Über den Winter 1908/09 meldete sie sich ab, um im Februar 1909 schließlich eine neue Stelle anzutreten. Dieses Mal führte es sie in einen Haushalt in Striesen: Anderthalb Jahre diente sie als Hausmädchen beim Oberrealschul-Oberlehrer Hugo Friedemann4, der in der ersten Etage in der Pohlandstraße 8 wohnte und ihr ebenfalls Treue, Ehrlichkeit und Fleiß bescheinigte, aber noch hinzufügte „Wir sind mit ihr wohl zufrieden gewesen“ – ob dieses „wohl“ relativierend oder verstärkend gemeint war, bleibt das Geheimnis des Zeugnisausstellers.

Gesindezeugnisbuch Frieda Theurich, Arbeitszeugnis des Oberlehrers Friedemann, 1910, Stadtmuseum Dresden, SMD_SD_1981_09885

Anschließend zog Frieda Theurich erneut um, dieses Mal ging es in die Altenberger Straße zur Familie Eismann, die in Nr. 13 ein Bäckereigeschäft betrieb. Viele Dienstmädchen wechselten häufiger ihre Stelle: Hauspersonal, das über Jahrzehnte in einem Haushalt blieb und sich für eine Familie aufopferte, ist ein verbreitetes Motiv in Filmen und Büchern, stellte in der Realität aber die Ausnahme dar.5 Frieda Theurich wäre vielleicht gern noch länger geblieben, aber wie aus ihrem Gesindezeugnisbuch hervorgeht, musste sie wegen Aufgabe des Geschäfts von Familie Eismann entlassen werden.

Ihre vierte Dienststelle war mit sieben Jahren die längste für Frieda Theurich. 1913 trat sie diese bei Familie Füge in der Blasewitzer Friedrich-August-Straße 10 an. Sie wurde auch über die für viele Haushalte familiär und finanziell schwierige Zeit des Ersten Weltkriegs nicht entlassen. Bei den Füges handelte es sich wahrscheinlich um ältere, wohlhabende Leute, denn Gustav Füge wird im Adressbuch als Privatier erwähnt, zudem war er seit 1905 Mitglied der Sparkassen-Deputation der Sparkasse Blasewitz, wo er als Rentner geführt wurde.6 Ebenfalls im Haus wohnte der Bankbeamte Walter Füge, wohl der erwachsene Sohn der Familie. Von der hinterbliebenen Witwe Füge erhielt Frieda Theurich im Jahr 1920 die vielleicht persönlichste Einschätzung: „Sie war unserer Familie in jeder Weise eine gute Stütze und wir sehen sie ungern scheiden und wünschen Ihr in ihrem Fortkommen alles Gute“.

Gesindezeugnisbuch Frieda Theurich, Arbeitszeugnis der Witwe Füge, 1920, Stadtmuseum Dresden, SMD_SD_1981_09885

In diesen sieben Jahren zwischen 1913 und 1920 war die Welt eine andere geworden, auch für das häusliche Dienstpersonal. 1918 wurde neben der Monarchie auch das Gesinderecht abgeschafft, es gab nun keine rechtliche Sonderstellung für Dienstboten mehr. Dienstmädchen gab es zwar weiterhin noch, auch die Bücher wurden weitergeführt, aber sie firmierten als Hausangestellte.

Typische Dienstkleidung: die Schürze. Lina Röhr aus Dresden (2. v. l.) während ihres Dienstes als Zimmermädchen in Swinemünde, Fotopostkarte, unbekannter Fotograf, 1915/1917, Stadtmuseum Dresden

An der Art der Arbeit änderte sich dagegen wenig. Frieda Theurich zog 1920 noch ein letztes Mal weiter, in die Dienste des Fabrikbesitzers Harkort, bevor die Eintragungen in ihrem Dienstbuch am 7. September 1922 endeten. Nach 15 Jahren als Hausmädchen und fünf verschiedenen Arbeitgebern heiratete Frieda Theurich im Alter von 31 Jahren den Telegrafenarbeiter Julius Paul Wolf und blieb mit ihm in Dresden. 1973 starb sie mit über 80 Jahren.

Gesindezeugnisbuch Frieda Theurich, letzter Eintrag aus dem Jahr 1922, der damit endet, dass Frieda Theurich heiratet, SMD_SD_1981_09885

Die museale Bewahrung solch scheinbar unauffälliger Dokumente wie dem Gesindezeugnisbuch von Frieda Theurich ermöglicht es, dass Lebensgeschichten wie die ihre, die anderenfalls wohl in Vergessenheit geraten würden, erhalten bleiben. Auch sie haben ihren Platz in der Dresdner Stadtgeschichte.

Zur Autorin

Dörthe Schimke ist Historikerin und seit 2018 am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde in Dresden tätig. Sie forscht für ihre Disseration zu häuslichem Dienstpersonal im Königreich Sachsen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Der Beitrag entstand im Rahmen der Reihe „Objekt im Fokus“.


  1. Berufs- und Betriebszählung vom 12. Juni 1907. Berufsstatistik, Abt. VI: Großstädte (Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 207), Berlin 1910, S. 266, 522 f. ↩︎
  2. Gesindemäkler waren gewerbliche Stellenvermittlungen für den häuslichen Dienst. 1903 gab es 66 solcher Büros in Dresden (Ludwig, Franz, Die Gesindevermittlung in Deutschland, Tübingen 1903, S. 13). ↩︎
  3. Verordnung, die nach Vorschrift der Gesindeordnung über die Dienstboten zu führende polizeiliche Aufsicht betreffend, in: Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen 1835, Stück 2, Nr. 11, S. 38–48, §§ 9–15. ↩︎
  4. Anfänglich wurde vermutet, dass es sich beim Dienstherrn um den Lehrer Hugo Friedemann (1840–1910) handelt, der nach beruflichen Stationen in Freiberg, Schmilka, Ungarn und Wien 1867 in das Königreich Sachsen zurückkehrte und hier als Lehrer tätig war. Friedemann war auch als Autor aktiv, schrieb Erzählungen und geografische Lehrbücher für Kinder und Jugendliche (vgl. auch Haan, Wilhelm, Emil Hugo Friedemann, inn: Sächsisches Schriftsteller-Lexicon, Leipzig 1875, S. 84). Inzwischen konnte ermittelt werden, dass Frieda Theurichs Dienstherr der gleichnamige Professor an der Oberrealschule Johannstadt, Hugo Emil Friedemann (1862–1936), war. ↩︎
  5. So berechnete Oscar Stillich für Berlin für das Jahr 1895 bei einer Gesamtzahl von 61.063 Dienstboten beiderlei Geschlechts 82.984 Stellenwechsel. In seiner eigenen Erhebung, die er um 1900 durchführte, stellte er fest, dass 42,6 % aller Dienenden weniger als ein Jahr bei einer Herrschaft blieben (Stillich, Oskar, Die Lage der weiblichen Dienstboten in Berlin, Berlin 1902, S. 94, 267 f.). ↩︎
  6. Sächsische Dorfzeitung und Elbgaupresse, Ausgabe v. 06.10.1907, S. 1. ↩︎