Gastbeitrag von Alicia Jablonski

Angelica Blechschmidt, geboren am 25. September 1941 in Dresden, prägte die Modewelt maßgeblich und wurde insbesondere durch ihre Arbeit als Chefredakteurin der deutschen Vogue bekannt. Ihre Karriere begann in Hamburg, wo sie seit ihrer Kindheit wohnte. Sie beschreibt den Umzug nach Hamburg als Flucht aus der „sowjetisch besetzten Ostzone“1. Einen kleinen Einblick in ihre Kindheit und Zeit in Dresden gibt sie in der Stilbiographie der Oktoberausgabe der Deutschen Vogue aus dem Jahr 1999. Hier berichtet sie zuerst von dem Moment ihres ersten Schultags, den sie vor allem mit der Erinnerung an die von ihrer Schwester übernommenen blauen Sandalen, die nun ihr gehörten, verbindet. Dann schreibt sie:

Als kleines Mädchen in Dresden verdanke ich der Mangelwirtschaft viele Mode-Erlebnisse dieser Art; in der reichen Bundesrepublik wurde bestimmt nicht so viel phantasiert, improvisiert und geschneidert. Damals war ich überzeugt: Jede Frau kreiert ihren Look selbst.

Angelica Blechschmidt2

Früh begann sie, internationale, besonders amerikanische Modezeitschriften zu sammeln. Vogue und Harper’s Bazaar waren „Offenbarungen“3 für sie: Die Hefte, die sie besonders inspirierten, besaß sie bis zum Erscheinen der Stilbiographie im Oktober 1999. In dieser frühen Phase begriff Blechschmidt, dass jede Frau, indem sie sich für oder gegen aktuelle Trends entscheidet, ihre ganz eigene modische Identität entwickelt4. In Hamburg absolvierte Blechschmidt eine Ausbildung zur grafischen Zeichnerin an der Meisterschule für Mode. Ihre berufliche Laufbahn startete sie anschließend bei der Zeitschrift Constanze, wo sie unter anderem auf die spätere Designerin Jil Sander traf. Gemeinsam mit Wolfgang Joop arbeitete sie als Art Director bei der Für Sie, bevor sie 1980 zur deutschen Vogue wechselte. Dort startete sie als Art Director und stellvertretender Chefredakteur, bevor sie zum Chefredakteur aufstieg.5 Ich nutze hier bewusst die maskuline Form, da sowohl Peter Kempe als auch Blechschmidt selbst bis zu ihrem Ausscheiden aus der Vogue diesen Arbeitstitel wählten. Ihre Vorworte unterzeichnete sie bis zum Schluss mit „Angelica Blechschmidt – Chefredakteur“. Unter ihrer Leitung etablierte sich die deutsche Ausgabe zu einer kommerziell erfolgreichen „Cashcow“6 für den Verlag Conde Nast.

Instagrambeitrag archive_angelica_blechschmidt, 10.1.2024 © Angelica Blechschmidt/Archive Angelica Blechschmidt, estate represented by Kirsten Landwehr @archive_angelica_blechschmidt.

Angelicas Vogue

Blechschmidt versuchte, die Leserinnen durch ihre Vorworte und Kolumnen zu inspirieren. Oft thematisierte sie die „VOGUE-Frau“, die sie zu Selbstbewusstsein und Wandelbarkeit aufforderte. Gleichzeitig fanden progressive Themen wie Schönheitsoperationen, Vergewaltigung, und psychische Gesundheit Platz in der Vogue, wodurch sie das Magazin „intellektuell“7 erweiterte.

Signatur Angelica Blechschmidt, Vogue April 1997, In: Blechschmidt, Angelica: Zum Heft. In: Vogue April 1997, S. 22.

Angelicas Fotografien

Neben ihrer redaktionellen Arbeit war Blechschmidt eine leidenschaftliche Fotografin. Mit ihrer Olympus-Kleinbildkamera dokumentierte sie ihren Berufsalltag und die Welt der Mode von den späten 1980er Jahren bis zu ihrem Tod im Jahr 2018 unermüdlich. Ihre Sammlung von etwa 180.000 Fotografien, die sie sorgfältig archivierte, wird nun von ihrer Vertrauten Kirsten Landwehr verwaltet. Eine Prestudy der TU Dortmund unter der Projektleitung von Jan C. Watzlawik schafft erste Erfolge, den Bestand auch wissenschaftlich zu sichern. Der Nachlass bietet wertvolle Einblicke in die Modewelt und erlaubt die Untersuchung von gesellschaftlichen Hierarchien, geschlechtsspezifischen Stereotypen und den wirtschaftlichen Aspekten des Modejournalismus jener Zeit. Die Dokumentationen, die Blechschmidt während ihrer Reisen zu internationalen Modenschauen erstellte, sind bemerkenswert. Mit ihrer Kamera hielt sie unzählige kleine und große Momente ihres Alltags fest. Landwehr beschreibt ihre Freundin als „die erste Influencerin der Modewelt“8, die mit ihren spontanen Schnappschüssen vieles vorwegnahm, was heute für Social Media selbstverständlich ist. Ihre Fotografien ähneln ästhetisch den Modefotografien der 90er- und 00er-Jahre, wie etwa von Juergen Teller oder Corinne Day.

Sie ließ ihre fotografische Dokumentation entwickeln und sortierte sie chronologisch oder nach Themen in Boxen. Ihre berufliche Stellung ermöglichte Angelica Blechschmidt den Zugang zu den exklusiven Hinterzimmern der Modenschauen, die in den 1990er Jahren sonst zumeist nur Branchenmitgliedern zugänglich waren9. Der Backstagebereich findet sich auf zahlreichen ihrer Fotografien. Zusätzlich archivierte sie auch Arbeitsmaterialien wie Einladungskarten zu Modenschauen, Briefwechsel, eigene und fremde Artikel sowie Arbeitsnotizen.

Alicia Jablonski: Fundsituation des Bestands bei der Erstsichtung, 2022, © M:AAB/TU Dortmund.
Alicia Jablonski: Flachware aus der Erschließung der Prestudy, 2024, © M:AAB/TU Dortmund.

Angelicas Erinnerungen

Zur Person Angelica Blechschmidt ist bisher wenig bekannt. Ihre Erinnerungen und Beiträge zur deutschen Vogue bieten jedoch wertvolle Einblicke in ihr Leben und ihre Wirkungsweise. In den Vorworten nahm sie die Leserschaft des Magazins mit in ihre Welt und zeigte in den Flash!-Kolumnen ihre Sicht auf die Modebranche, Partys und Persönlichkeiten. Einige der Vorworte beginnen mit Anekdoten aus Blechschmidts Privatleben. Hier beschreibt sie unter anderem, wie sie sich gemeinsam mit ihrer Mutter ihr erstes eigenes „Täschchen“10 aussuchen durfte und sich dabei nicht entscheiden konnte. Ihre Mutter lernte für sie Nähen, damit sie für ihre Tochter die Kleidung anfertigen konnte, die sie sich wünschte11. Und wie sie im Sommer mit Freunden oder ihrer Familie zu einer Kajaktour zum Sonnenaufgang aufbrach und später am Tag von Kühen aus einem nachmittäglichen Nickerchen geweckt wurde12. Seit ihrem 13. Lebensjahr trägt sie Schwarz, dies sei die „endgültige Farbe“13 für sie. Weiteres Markenzeichen sind Kreuze jeglicher Ausführung.14 Die Liebe zu diesem Motiv ist eng mit der Erinnerung an ihre Großmutter verknüpft. Diese trug täglich einen Kreuzanhänger und versprach der dreijährigen Angelica, ihr diesen zur Konfirmation zu schenken.

Auch wenn oder gerade weil nicht viel über Blechschmidt öffentlich bekannt ist, ist sie eine faszinierende Frau in der Geschichte des Modejournalismus. Ihre Vision und ihr unermüdlicher Einsatz für die Mode haben nicht nur die deutsche Vogue geprägt, sondern auch die Art und Weise, wie Mode und Modejournalismus heute verstanden werden. Daher ist ihr Nachlass eine wertvolle Quelle, die noch darauf wartet, vollständig wissenschaftlich erfasst und erforscht zu werden.

Über eben diesen Zugang lerne ich die ehemalige Chefredakteurin kennen. Angelica Blechschmidt war zielstrebig, wissbegierig und zugleich unkonventionell als auch konventionell. Ihr langjähriger Mitarbeiter Ulf Poschardt betitelte sie in seinem Nachruf als „[s]cheue Existenzialistin“15, Hella Schneider als „legendäre Vogue-Chefredakteurin“16, Alfons Kaiser als eine „Grande Dame, eine Instanz, eine Diva, eine Stilikone“17 und Alexandra Bondi de Antoni beschrieb sie in ihrem kürzlich erschienen Vogue-Artikel als „deutsche Stilikone“18.

Wer also war Angelica Blechschmidt? Vielleicht können Sie mir dabei helfen? Denn die Frage, die wir uns stellen, lautet: Kennen sie Angelica Blechschmidt?


Zur Autorin

Alicia Jablonski ist Kulturanthropologin und derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Kulturanthropologie des Textilen an der TU Dortmund. Als Kooperationswissenschaftlerin arbeitet sie an der von Jan C. Watzlawik geleiteten Prestudy „Modefotografie: Archiv Angelica Blechschmidt“, um den fotografischen Nachlass der ehemaligen Chefredakteurin der deutschen Vogue, Angelica Blechschmidt, wissenschaftlich zu erschließen, zu digitalisieren und zu archivieren.


Mehr zum Forschungsprojekt finden Sie hier:

https://kultur.kmst.tu-dortmund.de/forschung/projekte/unboxing-the-unexplored

https://www.instagram.com/modefotografie_archiv

https://www.instagram.com/archive_angelica_blechschmidt

Literatur

Arp, Christiane: Was bleibt. In: Captivate! Modefotografie der 90er, hg. von Claudia Schiffer. Ausstellungskatalog Kunstpalast Düsseldorf, Düsseldorf. Düsseldorf 2021, S. 209.

Blechschmidt, Angelica: Stilbiographie. In: Vogue Oktober 1999, S. 432.

Blechschmidt, Angelica: Zum Heft. In: Vogue August 1993.

Blechschmidt, Angelica: Zum Heft. In: Vogue Februar 1995.

Blechschmidt, Angelica: Zum Heft. In: Vogue Juli 1997.

Blechschmidt, Angelica: Zum Heft. In: Vogue Juni 1996.

Blechschmidt, Angelica: Zum Heft. In: Vogue September 1995.

Bondi de Antoni, Alexandra: Angeknipst. In: Vogue Oktober 2024. https://www.vogue.de/galerie/angelica-blechschmidt-archiv-fotos-90er-claudia-schiffer-jil-sander-helmut-lang

Kaiser, Alfons: Eine Diva aus Deutschland. Angelica Blechschmidt, die ehemalige Chefredakteurin der „Vogue“, ist gestorben. Sie modernisierte das Land modisch und war selbst eine Stilikone. In: Frankfurter Allgemeine 30.06.2018.

Kempe, Peter: Mode als Beruf. In: Dressed. 7 Frauen – 200 Jahre Mode, hg. von Tulga Beyerle und Angelika Riley. Ausstellungskatalog MK&G, Hamburg. München 2022, S. 175.

Poschardt, Ulf: Scheue Existenzialistin. Die Welt Online 30.06.2018.

Schneider, Hella: Todesfall: Die legendäre Vogue-Chefredakteurin Angeilca Blechschmidt ist verstorben. In: Vogue online 30.06.2018.

Schneider, Hella: War Angelica Blechschmidt die erste Influencerin der Modewelt? Galeristin Kirsten Landwehr über das Archiv der ehemaligen VOGUE-Chefredakteurin. https://www.vogue.de/mode/artikel/interview-kirsten-landwehr-angelica-blechschmidt-archiv


  1. Peter Kempe: Mode als Beruf. In: Dressed. 7 Frauen – 200 Jahre Mode, hg. von Tulga Beyerle und Angelika Riley. Ausstellungskatalog MK&G, Hamburg. München 2022, S. 175. ↩︎
  2. Angelica Blechschmidt: Stilbiographie. In: Vogue Oktober 1999, S. 432. ↩︎
  3. Ebd., S. 432. ↩︎
  4. Vgl. ebd., S. 432–433. ↩︎
  5. Vgl. Kempe: Mode als Beruf, S. 176 ↩︎
  6. Ebd., S. 177. ↩︎
  7. Ulf Poschardt: Scheue Existenzialistin. Die Welt Online 30.06.2018. ↩︎
  8. Hella Schneider: War Angelica Blechschmidt die erste Influencerin der Modewelt? Galeristin Kirsten Landwehr über das Archiv der ehemaligen VOGUE-Chefredakteurin. https://www.vogue.de/mode/artikel/interview-kirsten-landwehr-angelica-blechschmidt-archiv [Zugriff: 1.12.2024] ↩︎
  9. Christiane Arp: Was bleibt. In: Captivate! Modefotografie der 90er, hg. von Claudia Schiffer. Ausstellungskatalog Kunstpalast Düsseldorf, Düsseldorf. Düsseldorf 2021, S. 209. ↩︎
  10. Vgl. Angelica Blechschmidt: Zum Heft. In: Vogue Februar 1995. ↩︎
  11. Vgl. Angelica Blechschmidt: Zum Heft. In: Vogue Juli 1997. ↩︎
  12. Vgl. Angelica Blechschmidt: Zum Heft. In: Vogue Juni 1996. ↩︎
  13. Angelica Blechschmidt: Zum Heft. In: Vogue August 1993. ↩︎
  14. Vgl. Angelica Blechschmidt: Zum Heft. In: Vogue September 1995. ↩︎
  15. Poschardt: Scheue Existenzialistin. ↩︎
  16. Hella Schneider: Todesfall: Die legendäre Vogue-Chefredakteurin Angelica Blechschmidt ist verstorben. In: Vogue online 30.06.2018. ↩︎
  17. Alfons Kaiser: Eine Diva aus Deutschland. Angelica Blechschmidt, die ehemalige Chefredakteurin der „Vogue“, ist gestorben. Sie modernisierte das Land modisch und war selbst eine Stilikone. In: Frankfurter Allgemeine 30.06.2018. ↩︎
  18. Alexandra Bondi de Antoni: Angeknipst. In: Vogue Oktober 2024. ↩︎