Gastbeitrag von Daniel Ristau
Das Interview ist Teil der begleitenden Blog-Reihe zur Intervention Rethinking Stadtgeschichte: Perspektiven jüdischer Geschichten und Gegenwarten in der Dauerausstellung des Stadtmuseums Dresden 2021/2022. Angesichts der aktuellen Überlegungen zu einem Jüdischen Museum für Sachsen kommen an dieser Stelle Akteurinnen und Akteure, die sich mit dem Thema beschäftigen, Vertreterinnen und Vertreter der jüdischen Gemeinden in Sachsen, von Politik und Gesellschaft sowie Expertinnen und Experten mit ihren Standpunkten, Ideen, Kritiken und Perspektiven zu Wort.
Zur Einführung in die aktuelle Museumsdebatte
Zur Person:
Ihre Leidenschaft für Alte Musik führte die in Philadelphia geborene Avery Gosfield nach Europa. Eine zufällige Begegnung mit einem italienischen Purimspiel aus dem 16. Jahrhundert ermöglichte es ihr 2004, ihren Beruf mit ihrer Herkunft zu verbinden. Sie leitet die Mittelalter-Renaissance-Gruppe Lucidarium und hält Vorträge sowie Workshops in ganz Europa und Nordamerika. Gosfield, die über die Klanglandschaft des venezianischen Ghettos im 16. Jahrhundert promoviert, ist seit 2020 Leiterin der Jüdischen Musik- und Theaterwoche Dresden.
(1) Was halten Sie von der Idee, ein „jüdisches Museum“ in Sachsen einzurichten?
Jeder zusätzliche Raum, der dem Judentum und der jüdischen Kultur gewidmet ist, sollte als eine positive Entwicklung angesehen werden. Gleichzeitig glaube ich nicht, dass die Schaffung eines konventionellen jüdischen Museums, das lediglich ein traditionelles Konzept von „Museum“ reproduzieren würde, die nützlichste Ergänzung für die Gesellschaft und auch nicht der beste Weg ist, um Toleranz zu fördern. Anstelle eines „toten“ Raums, in dem jüdische Gegenstände aufbewahrt und ausgestellt werden oder der „nur“ der Vergangenheit geweiht ist, wünsche ich mir einen Ort, der der Bewegung gewidmet ist. Mit anderen Worten: Einen Raum, der der lebendigen jüdischen Kultur als einem pulsierenden, lebensfrohen, reichen und vielfältigen Phänomen dient.
(2) Wo und wie sollte jüdische Geschichte und Gegenwart zugänglich gemacht werden?
Das Wo ist keine so wichtige Frage. Das Wie ist entscheidend. Ich denke, dass die Online-Zugänglichkeit eines der Hauptanliegen bei der Umsetzung einer solchen Idee sein muss. Zumindest in der jüdischen Kulturgemeinschaft hat die Covid-19-Pandemie eine Art beweglichen, digitalen Treffpunkt geschaffen, an dem Forschungsprojekte, Workshops und Veranstaltungen zu jeder Tages- und Nachtzeit zugänglich sind. Die neuen Möglichkeiten der digitalen Expansion können sich sowohl auf jene Menschen positiv auswirken, die sich bereits intensiv mit jüdischem Leben und jüdischer Kultur beschäftigen, als auch auf jene, die neugierig auf das Thema sind. Ein derart virtuelles Museum wird dann zu einer Art Bibliothek, einer Fundgrube für Kunst, Aktionen, Kultur und Informationen, die von jedem Ort jederzeit und sofort zugänglich abgerufen werden können.
(3) Was kann und was sollte präsentiert werden?
Im Idealfall würde das Museum sowohl eine lokale als auch eine globale Identität vermitteln. Auf lokaler Ebene würde es sich mit der einzigartigen Geschichte der Juden in Sachsen und Böhmen sowie ihrer Rolle als wichtige Mitglieder der Gesellschaft befassen, aber – zumal, wenn damit auch ein konkreter physischer Ort verbunden ist – auch für Veranstaltungen und Ausstellungen genutzt werden können. In diesem Zusammenhang sei gesagt, dass meine Großeltern alle in Osteuropa geboren wurden, aber in Amerika gestorben sind, dass ich in Amerika geboren wurde, aber in Holland, der Schweiz und Italien gelebt habe, so dass Deutschland mein fünftes Land sein wird. Mein Sohn wurde in der Schweiz geboren, lebt in Schottland und identifiziert sich als Italiener, Amerikaner und Jude. Das Argument, das dagegenspricht, das Museum „ganz sächsisch“ zu machen, ist also, dass das Konzept einer engen, generationenübergreifenden Verbindung zu einem bestimmten Ort, Staat oder einer Stadt in vielen (aber nicht allen) Fällen der jüdischen Erfahrung insgesamt fremd ist.
Im globalen Teil würde ich gerne ein Museum sehen, das dem jüdischen Leben und der jüdischen Kultur gewidmet ist – mit Vorträgen, Performances, Buchlesungen, Kochdemonstrationen und temporären Ausstellungen. Die historische jüdische Erfahrung sollte aktuellen Erfahrungen gegenübergestellt werden, etwa durch den Vergleich zur Lage von Flüchtlingen heute. Das Museum müsste zudem ein Zentrum für Begegnungen zwischen verschiedenen Kulturen wie ein Ort der Debatten über die israelisch-palästinensische Krise sein, Exponate zu den verschiedenen Arten von Bindestrich-Deutschen ebenso präsentieren, wie interaktive Ausstellungen für Kinder. Kurz: Ein Ort voller Leben und Relevanz für die heutige Welt.
(4) Wer soll erreicht werden?
Jedermann! Jüdinnen und Juden, die Sachsen besuchen, Sächsinnen und Sachsen, die mehr über das Judentum und die jüdische Kultur erfahren wollen, Touristinnen und Touristen, Kinder, Familien und so weiter. Ich würde sagen, dass sowohl hochwertige kulturelle Angebote wie Konzerte oder Lesungen als auch solche speziell für Schulkinder und Familien entwickelt werden müssten. Beides muss sich übrigens nicht unbedingt ausschließen.
(5) Wenn Sie ein museales Objekt auswählen könnten, das Sie als besonders aussagekräftig für Geschichte und Gegenwart jüdischen Lebens halten, welches wäre das – und warum?
Eine Bühne – dazu ist, denke ich, keine weitere Erklärung nötig.
(6) Was sollte in der Debatte um ein Jüdisches Museum als nächstes passieren?
Nun, als Nachzüglerin, die noch an keiner der Diskussionen teilgenommen hat, kann ich dazu kaum etwas sagen. Ich persönlich finde es wichtig, dass möglichst viele Leute, die sich als jüdisch identifizieren, zur Debatte eingeladen werden, auch wenn das bedeutet, dass Menschen außerhalb Sachsens einbezogen werden müssen. In den USA wäre es undenkbar, ein Museum über die afroamerikanische Geschichte einzurichten, in dem sich weniger als die Hälfte der an der Planung beteiligten Personen als Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner identifizieren. Der Hauptgrund, warum heute nicht mehr so viele Jüdinnen und Juden in Sachsen leben, ist natürlich kein Zufall, sondern lässt sich direkt auf einen Genozid, die Shoah, zurückführen. Umso wichtiger ist es, dass wir ein gewisses Maß an Kontrolle über unsere eigenen Narrative haben – und zwar möglichst so, dass dabei Mitglieder aus dem gesamten Spektrum jüdischen Lebens vertreten sind.