Gastbeitrag von Daniel Ristau
Das Interview ist Teil der begleitenden Blog-Reihe zur Intervention Rethinking Stadtgeschichte: Perspektiven jüdischer Geschichten und Gegenwarten in der Dauerausstellung des Stadtmuseums Dresden 2021/2022. Angesichts der aktuellen Überlegungen zu einem Jüdischen Museum für Sachsen kommen an dieser Stelle Akteurinnen und Akteure, die sich mit dem Thema beschäftigen, Vertreterinnen und Vertreter der jüdischen Gemeinden in Sachsen, von Politik und Gesellschaft sowie Expertinnen und Experten mit ihren Standpunkten, Ideen, Kritiken und Perspektiven zu Wort.
Zur Einführung in die aktuelle Museumsdebatte
Zur Person:
Frank Britsche studierte Geschichte, Politikwissenschaft, Soziologie und Erziehungswissenschaft, schloss sein Studium mit dem Lehramtsstaatsexamen ab und promovierte an der Universität Leipzig, wo er im Bereich Geschichtsdidaktik lehrt. Neben der schulischen Geschichtsvermittlung, konzipierte er historische Ausstellungen sowie analoges wie digitales Bildungs- und Unterrichtsmaterial. Gegenwärtig vertritt er die Professur für Neuere und Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte an der Technischen Universität Dresden.
(1) Was halten Sie von der Idee, ein „jüdisches Museum“ in Sachsen einzurichten?
Eine großartige, unterstützenswerte Idee! Es braucht Orte, an denen Menschen einander begegnen und direkt ins Gespräch kommen können. Das ist meines Erachtens auch im digitalen Zeitalter ein Grundbedürfnis. Ein Museum ist ein Ort, wo dies möglich ist, das sollte gefördert werden. Neben den jüdischen Gemeindezentren gibt es in Sachsen insgesamt zu wenig Kulturzentren und Orte des sozialen, kulturellen und geistigen Austausches. Ein Museum als öffentliche Einrichtung kann ein barrierefreier Zugang sein, um mit niederschwelligen Angeboten offene und neugierige Begegnungen zu ermöglichen. Eine institutionalisierte Einrichtung mit einem vielfältigen Angebot für Jung und Alt aus nah und fern würde auch für das gesellschaftliche Miteinander und den vielfach geforderten Zusammenhalt einen wichtigen Beitrag leisten. Überdies wäre es eine starke Stimme in Kultur und Gesellschaft, gerade zu Themen, die uns in der Gegenwart bewegen.
(2) Wo und wie sollte jüdische Geschichte und Gegenwart zugänglich gemacht werden?
Prinzipiell könnte dies überall in Sachsen geschehen, denn jüdische Geschichte ist überall zu finden, nur nicht (mehr) immer sichtbar. Vieles spricht dafür, einen mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut erreichbaren Ort zu wählen, gut erreichbar vor allem für Schulklassen. Dresden und Leipzig eignen sich natürlich aufgrund der weitreichenden jüdischen Gemeindegeschichte, aber auch wegen der dort schon vorhandenen Initiativen. Sehr engagiert organisieren zivilgesellschaftliche Träger Veranstaltungen und sorgen für Momente der Begegnung. Dies würde einem rein virtuellen Museum kaum gelingen, dafür ist eine gewisse Infrastruktur nötig. Ob ein Neubau erforderlich ist, kann ich nicht einschätzen; ideal wäre natürlich die Nähe zu einem Gedenkort. Vorstellbar sind neben Dresden und Leipzig aber auch weitere Standorte in Sachsen, wo eine größere museale Aufmerksamkeit wünschenswert wäre, um jüdisches Leben und jüdische Geschichte als Teil des Miteinanders sichtbar zu machen. Ich denke da etwa an Plauen, Zwickau oder Chemnitz, da dort viele jüdische Gemeindemitglieder lebten und Spuren hinterließen.
(3) Was kann und was sollte präsentiert werden?
Ein Museum dieser Art muss von Menschen und deren Schicksalen erzählen, von ihren Ideen, Begegnungen und Plänen, aber auch von ihren Konflikten. Es darf nichts ausgespart werden. Antisemitismus, wie er heute auftritt, muss konkret thematisiert werden. Ein Schwerpunkt auf jüdisches Leben, das Miteinander von jüdischen und nicht-jüdischen Menschen in regionaler Perspektive wäre meiner Meinung nach sinnvoll, verdeutlicht an fassbaren Beispielen mit nachvollziehbaren Quellen und Objekten. Denn das Museum soll auch einladen, Spuren vor Ort (weiter) zu erkunden und nachzudenken, wie sich im Nahraum die großen weltpolitischen Entwicklungen wie etwa Migration und Vertreibung vollzogen haben und wie wir unsere Lebenswelt vor Ort gestalten.
Zur Orientierung in der Gegenwart braucht es eine gewisse Struktur, über die man gewiss streiten kann. Aber letztlich soll sie auch der historischen Einordnung dienen, einfach auch um gesicherte Fakten zu präsentieren, über die es keinen Streit geben sollte. Biografische Zugänge halte ich für essentiell: Hier dürften viele lebensgeschichtliche Quellen einbezogen werden, die vom konkreten Leben berichten. Dringend zu integrieren sind an der Gegenwart orientierte Sonderausstellungen zu Fragen, die wir uns aktuell stellen und die uns gewissermaßen selbst den Spiegel vor Augen halten.
(4) Wer soll erreicht werden?
Auch wenn Lernen bekanntlich lebenslang stattfindet, finde ich es wichtig, Impulse insbesondere für Schülerinnen und Schüler zu setzen. Ansprechende Ausstellungen könnten lebendige Auseinandersetzungen fördern, um über das Hier und Jetzt nachzudenken, Gegenwart und Zukunft zu gestalten. In der Geschichtsdidaktik sind wir den Prinzipien der Multiperspektivität, Kontroversität und Pluralität verpflichtet, ebenso der Lebensweltorientierung. Wir nehmen sehr genau wahr, wie sich Schülerinnen und Schüler mit Geschichte beschäftigen und wie sie sich diese aneignen. Dies gilt es zu berücksichtigen, wenn wir Ausstellungen nicht über die Köpfe derer hinweg machen wollen, die wir erreichen möchten. Daher braucht es partizipative Angebote mehr denn je, ebenso sprach- und kultursensible; es braucht Angebote auch für Menschen, die zu uns kommen und einen anderen erfahrungsgeschichtlichen Hintergrund haben. Geschichte ist stets aus verschiedenen Perspektiven zu erzählen und darf auch irritieren, um sie lebendig zu halten. Daher sind Fragen der Gegenwart an historische Sachverhalte so wichtig. Dies kann durch entdeckendes Erkunden geschehen, um eigene Antworten auf Fragen zu finden, wie sie sich jede Generation stellt. Dazu müssen aber ganz praktisch ausreichend qualitative Unterstützungsangebote für Lehrkräfte bereitgestellt werden, die sie zur Vor- und Nachbereitung nutzen können – natürlich auch digital weiterführend. Freie Lernmaterialien im Sinne von Open Educational Resources bieten dies zum Beispiel.
(5) Wenn Sie ein museales Objekt auswählen könnten, das Sie als besonders aussagekräftig für Geschichte und Gegenwart jüdischen Lebens halten, welches wäre das – und warum?
Es gibt viele Quellen zum jüdischen Miteinander. Ein bestimmtes Objekt auszuwählen fällt schwer, da die Aussage in der Vielfalt liegt. Jedoch gibt es Schriften, die unser intellektuelles Denken besonders bereichert haben, wie jene der Pädagogin und Frauenrechtlerin Henriette Goldschmidt. Sie engagierte sich bei der Verbreitung reformpädagogischer Konzepte, nach denen wir heute wieder fragen, wenn es um unser Bildungssystem geht, das inklusiv angelegt werden muss. Insofern verbindet sich in Henriette Goldschmidts Ideen und Konzepten Vergangenheit mit Gegenwart und Zukunft.
Wenn es um dreidimensionale Objekte geht, fällt mir die Carlebachschule ein, also die 1913 in Leipzig errichtete Höhere Israelitische Schule. Lehrmittel und Archivalien dieser Bildungsanstalt, in der jüdische und nicht-jüdische Schüler gemeinsam lernten, böten auch einen Zugang für heutige Schülerinnen und Schüler, um sich mit vergangenen Zeiten zu beschäftigen und selbst Fragen an die Geschichte zu stellen. Hier habe ich selbst sehr gute Erfahrungen mit Schulklassen gemacht, die sich auf historische Spurensuche begaben.
(6) Was sollte in der Debatte um ein Jüdisches Museum als nächstes passieren?
Es braucht neben einer breiten gesellschaftlichen Debatte auch konkrete inhaltliche Überlegungen und umsetzbare Entwürfe, die überzeugen, nicht nur auf politischer Ebene, sondern auch in kultureller, wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Dimension. Ein Museum darf kein Elitenprojekt sein, sondern sollte aus der Zivilgesellschaft erwachsen, ihren Ansprüchen und Bedürfnissen entsprechen. Potentiale dazu sehe ich durchaus.
Wenn sich die bisherigen Akteurinnen und Akteure nicht auf einen konkreten Ort in Sachsen oder gar eine Form (‚digital vs. analog‘) der künftigen musealen Einrichtung einigen können, ist das für mich ein Zeichen, die Perspektive zu erweitern. Es wäre doch denkbar, eine Stiftung zu gründen als Trägerinstitution, deren Grundfinanzierung über Bund und Land gewährleistet ist. Deren Partner sind dann nicht nur kommunale Einrichtungen und Wissenschaftsinstitutionen, sondern umfassen auch das Spektrum der Zivilgesellschaft, die in die laufende Gestaltung und die Abstimmungsprozesse einzubeziehen ist, um auch kleineren Vereinen, Privatinitiativen und Gastwissenschaftler*innen Raum zu geben, sich aktiv einzubringen.