Gastbeitrag von Daniel Ristau
Das Interview ist Teil der begleitenden Blog-Reihe zur Intervention Rethinking Stadtgeschichte: Perspektiven jüdischer Geschichten und Gegenwarten in der Dauerausstellung des Stadtmuseums Dresden 2021/2022. Angesichts der aktuellen Überlegungen zu einem Jüdischen Museum für Sachsen kommen an dieser Stelle Akteurinnen und Akteure, die sich mit dem Thema beschäftigen, Vertreterinnen und Vertreter der jüdischen Gemeinden in Sachsen, von Politik und Gesellschaft sowie Expertinnen und Experten mit ihren Standpunkten, Ideen, Kritiken und Perspektiven zu Wort.
Zur Einführung in die aktuelle Museumsdebatte
Zur Person:
Dr. Herbert Lappe kam 1946 in London als Sohn jüdischer Emigranten zur Welt. Seit 1949 lebt er in Dresden. Viele Jahre war der IT-Berater Mitglied des Vorstandes der Jüdischen Gemeinde zu Dresden und der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Dresden e.V.. Er verfasste zahlreiche Abhandlungen und Zeitungsartikel zur Geschichte der Juden und insbesondere auch zur sächsisch-jüdischen Geschichte. Seit über dreißig Jahren hält er Vorträge und Weiterbildungsveranstaltungen zur Geschichte der Juden in Schulen, Kirchgemeinden und Jugendklubs. Homepage: https://herbertlappe.de/texte.html.
(1) Was halten Sie von der Idee, ein „jüdisches Museum“ in Sachsen einzurichten?
Ich begrüße, wenn die Geschichte der Juden Sachsens als Teil der allgemeinen Geschichte Sachsens sichtbar gemacht werden soll. Da besteht großer Nachholbedarf! Jedoch muss, damit das Museum nicht zum Selbstzweck wird, zuerst eine grobe Vorstellung über Inhalt und Zielstellung des Museums entwickelt werden. Dazu genügt die Aussage: „andere Städte haben auch ein jüdisches Museum“ nicht. Viele Argumente jener Akteure, die sich für ein jüdisches Museum aussprechen, sehe ich sehr kritisch, ja sogar zweifelhaft.
In Dresden sind die treibenden Akteure Michael Hurshell, der zur Zeit Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Dresden ist, und Wolfram Nagel. Sie treten als Vertreter eines Museumsvereins auf, über den nicht mehr bekannt, als dass er 2013 gegründet wurde. Soweit mir aus der Presse und einem Vortrag von Herrn Hurshell in der Jüdischen Gemeinde bekannt ist, engagieren sich beide für die Nutzung des Alten Leipziger Bahnhof als Museum. Sie bevorzugen diesen Standort, weil hier ein konkreter, allerdings negativer Bezugspunkt zur jüdischen Geschichte Dresdens vorhanden ist: Von hier fuhren die Deportationszüge nach Auschwitz ab. Darüber, ob dieser Inhalt mit dem in der Presse propagierten Motto: „Junges Museum für junge Leute“ zusammenpasst, lässt sich streiten.
Weitaus problematischer scheint mir aber, wenn Michael Hurshell und Wolfram Nagel, beide Mitglieder der Jüdischen Gemeinde zu Dresden, zur Begründung des Standorts ein Argument heranziehen, dass in meinen Augen gleichsam der Mottenkiste des Antisemitismus entstammt: „Jüdische Geschäftsleute hatten einen wesentlichen Anteil an der Ferneisenbahnstrecke Leipzig – Dresden.“ Weshalb ist die Konfession der Geschäftsleute von Bedeutung? Aus der zeitgenössischen Literatur zum Eisenbahnbau ist mir kein Hinweis auf die Konfession der Geschäftsleute – ganz gleich ob christlich oder jüdisch – bekannt. Die besondere Hervorhebung und Kennzeichnung der Beteiligten Akteure am Eisenbahnbau als „jüdisch“ ist ein Rückfall in die Zeit, als Menschen eher über ihre Religion, ihre Herkunft oder vermeintliche „Rasse“ als über ihre Leistungen definiert wurden. Eine Zeit, in der Religion noch nicht Privatsache war. Das Herausstellen der jüdischen Religion der Geschäftsleute ist eine Argumentation zur Ausgrenzung von Juden. Ihren Höhepunkt fand diese durch die Nationalsozialisten, die dann zwischen raffendem, also „jüdischem“, und schaffendem, also „nichtjüdischem“, „arischem“ Kapital unterschieden.
Auch verstehe ich nicht, weshalb die Geschichte der Juden in Sachsen für die Zeit seit der Gleichberechtigung, die um 1870 erfolgte, in einem eigenen jüdischen Museum, also außerhalb und unabhängig von vorhandenen Museen etwa zur Stadtgeschichte, dargestellt werden soll. Das macht aus den Deutschen jüdischer Konfession wieder eine Sondergruppe und spricht ihnen ab, „gewöhnliche Deutsche” sein zu können. Doch genau das waren sie und wollten sie nach jahrhundertelanger Außenseiter- und Sonderstellung sein: gleichberechtigte Deutsche, bei denen die Konfession Privatsache war – so, wie auch bei Katholiken, Lutheranern und anderen. Leider sehe ich bei den Vorstellungen von Michael Hurshell und Wolfram Nagel die Gefahr, dass Juden wieder als Nicht-Deutsche präsentiert werden. Das wäre ein Rückfall in die Zeit vor der Emanzipation.
(2) Wo und wie sollte jüdische Geschichte und Gegenwart zugänglich gemacht werden?
Die Darstellung jüdischer Geschichte und Gegenwart sollte aus den konkreten historischen Bedingungen der allgemeinen Geschichte und Gegenwart Sachsens abgeleitet werden. Das betrifft auch den Standort oder die Standorte zu ihrer Darstellung. Als Diskussionsanregung gedachte Vorschläge dazu haben André Lang und ich im Februar 2021 in einem Papier zusammengefasst.
Wir sind unter anderem der Meinung, dass die Geschichte der Juden nur aus der Wechselwirkung und aus dem Vergleich mit der nichtjüdischen Umgebung erklärbar ist. Das betrifft sowohl die wirtschaftlichen Beziehungen vor der Gleichberechtigung wie auch die religiösen Beziehungen. Zudem ist in unseren Augen Geschichte an authentischen Orten eher „erlebbar“ als in Sammlungen abseits vom ursprünglichen Geschehen. Ergänzend könnten an authentischen Orten Stadtrundgänge zur Geschichte der Juden angeboten werden. Bei der Auswahl der Orte sollte deren historische Bedeutung berücksichtigt werden.
(3) Was kann und was sollte präsentiert werden?
Ich will die eben ausgeführten Gedanken an einigen Beispielen verdeutlichen: In Meißen lebten bereits in der Zeit von etwa 1100 bis etwa 1350 Juden, der Beginn der jüdischen Besiedlung Sachsens bis zu ihrer Vertreibung. Hier müsste über die Beziehungen und Spannungen zwischen Juden und Christen gesprochen werden. Anlaufpunkt wäre die noch einzurichtende Ausstellung im Stadtmuseum Meißen, aber auch jene Orte und Artefakte im Stadtgebiet, wie der Standort des ehemaligen Friedhofs, Grabsteine an verschiedenen Orten oder der vermutete Ort der ehemaligen Synagoge.
In Leipzig wiederum waren Juden ab dem 17. Jahrhundert als Fernhändler zu den Messen willkommen. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts durften sich die ersten Juden dauerhaft niederlassen und legten den Grundstock für die spätere jüdische Gemeinde. Auch hier wäre die Ausstellung des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig mit seiner recht großen Sammlung an Objekten ein zentraler Anlaufpunkt. Authentische Orte sind darüber hinaus etwa die ehemaligen Messehallen in der Mädlerpassage, die noch heute von der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig genutzte Brodyer Synagoge, die ursprünglich für jüdische Händler aus dem galizischen Brody angelegt wurde, oder das Gedenkareal am Standort der 1938 zerstörten Synagoge in der Gottschedstraße.
In Dresden ließen sich ebenfalls noch im 17. Jahrhundert wieder erste Juden nieder, die vor allem als Finanziers für die sächsischen Kurfürsten und polnischen Könige tätig waren. Neben dem Kronentor des Dresdner Zwingers, das die polnische Königskrone trägt, zu deren Erwerb unter anderem Berend Lehmann beitrug, das Grüne Gewölbe mit vielen ebenfalls von jüdischen Hoffaktoren beschafften Objekten, aber auch der Alte Jüdische Friedhof in der Dresdner Neustadt, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts angelegt wurde.
Die Geschichte der Juden in Chemnitz, Dresden und Leipzig ab der Gleichstellung, also ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ist in meinen Augen indes nicht als „Sondergeschichte“ darzustellen: Als gleichberechtigte sächsische und Stadtbürger waren Juden Teil der allgemeinen Geschichte und gehören deshalb auch in der Darstellung in diese eingebettet. Auch die Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus, der Shoah und der Nachkriegsgeschichte gehört in die jeweiligen Stadtmuseen. Schließlich setzten die Vertreibung und Ermordung der Juden die Beteiligung von Teilen der Bevölkerung voraus. Auch leisteten Juden ebenso wie Nichtjuden Widerstand gegen die NS-Diktatur. Die besondere Situation der jüdischen Gemeinden in der DDR nach 1945 wird ebenfalls nur im Vergleich mit der Situation der christlichen Kirchen verständlich.
(4) Wer soll erreicht werden?
Die Zielgruppe sollte ab zwölf Jahre sein. Man muss dabei immer davon ausgehen, dass keinerlei (!) Vorkenntnisse bestehen. Aus langjährigen Erfahrungen weiß ich: Einfachste Grundlagen wie der Unterschied zwischen Judentum und Christentum oder Kenntnisse über deutsche Geschichte – also nicht nur die des Holocaust – können nicht vorausgesetzt werden.
(5) Wenn Sie ein museales Objekt auswählen könnten, das Sie als besonders aussagekräftig für Geschichte und Gegenwart jüdischen Lebens halten, welches wäre das – und warum?
Eine Idee ist die Geschichte von Horst Weigmann, der seine Mutter Toni Weigmann aus den Fängen der Gestapo retten wollte. Toni Weigmann wurde von den Nationalsozialisten als Jüdin verfolgt, hatte aber mit dem Judentum überhaupt „nichts am Hut“. Ihr Sohn Horst, nach der NS-Terminologie ein „Halbjude“, diente beim Überfall auf Frankreich in der Wehrmacht und wurde dafür sogar ausgezeichnet. Seinen abenteuerlichen Versuch, die Mutter aus dem Gestapo-Gefängnis zu retten, bezahlte er mit seinem Leben.
Der für eine Dilemmadiskussion mit Schülern aufbereitete Stoff zwingt die Schüler, sich sowohl mit der NS-Zeit zu beschäftigen wie auch eine Position zum Verhalten von Horst Weigmann zu beziehen. Dadurch wird die Frage nach möglichem eigenverantwortlichem Handeln provoziert.
(6) Was sollte in der Debatte um ein Jüdisches Museum als nächstes passieren?
Als erstes sollte man die inhaltlichen Rahmenbedingungen abstecken: Reden wir also nur über Sachsen oder greifen wir auch die Verbindungen in die umliegenden Länder und Regionen auf? Dann müsste über Inhalte und Ziele ebenso wie über Möglichkeiten zu deren Realisierung nachgedacht werden. Ob wir dann ein Museum an einen einzigen Ort oder eine dezentrale Lösung bevorzugen, kann erst auf dieser Basis entschieden werden.
Das Wichtigste aber ist: Bei jedem weiteren Schritt sollte immer die Öffentlichkeit einbezogen werden.
Ich stimme Herrn Lappe nachdrücklich zu, daß es keines extraordinären jüdischen Museums in Sachsen bedarf. Die jüdischen Menschen waren immer unmittelbarer Teil der Gesellschaften in den Jahrhunderten und in diesem gesamtgesellschaftlichen Kontext sollten sie auch heute dargestellt werden.Sozusagen: Der Hinweis an Ort und Stelle. Also gehört eine Darstellung jüdischen Lebens in jedes Stadtmuseum und an jeder anderen Stelle, an der jüdisches Leben in seiner Aktivität wie in seinem Schicksal passierte. Diese unmittelbare, oft überraschende Begegnung hat mich immer tief beeidruckt. Ich denke z.B. an die Darstellung der Schocken-Geschichte im SMAG oder an die Vertreibungseignisse 1933 bei Zeiss Ikon, jetzt im Technischen Museum dargestellt.Und die Stopersteine gehören dazu, vor denen ich mitten im Alltag immer innehalte und nachdenke. Diese täglich Unmittelbarkeit des Nachdenkens erreicht kein Extramuseum. Also dies ist meine Meinung.