Über mehrere Jahrzehnte waren die Entwürfe von Martin Gersdorf aus der Dresdner Innenstadt nicht wegzudenken. Man kaufte Obst am Gersdorf-Tresen des HO, buchte seine Reise nach Rumänien im von Gersdorf gestalteten Reisebüro, verspeiste Eis oder Broiler in Stühlen von Gersdorf und tanzte unter der stalaktitenartigen Deckenbeleuchtung von Gersdorf durch die Nacht. Und am nächsten Tag konnte man sich im Kosmetiksalon unter sanfter Beleuchtung von Gersdorf-Lampen wiederherstellen lassen. Ab den 1990er Jahren verschwanden die Bauten nach und nach aus dem Stadtbild.
Für das Stadtmuseum tauchte der Name Martin Gersdorf das erste Mal 2021 bei der Vorbereitung der Pop-Up-Ausstellung im ehemaligen Selbstbedienungsrestaurant „pick-nick“ auf. Der Eigentümer des kurz vor dem Abriss stehenden Gebäudes hatte für uns aufgeräumt und auch gleich einen späteren Umbau in Trockenbauweise entfernen lassen. Dabei war der Rest des noch sehr gut erhaltenen früheren Thekenbereichs ans Tageslicht gekommen. Eine fantastische Überraschung!
Bei Recherchen im Stadtarchiv stießen wir in den Bauakten auch auf die Originalpläne des Gebäudes und der Ausstattung. Der Name des Entwerfers war nicht ganz einfach zu entziffern, aber Marco Dziallas vom Netzwerk Ostmodern, damals Kooperationspartner für die Ausstellung, konnte klären, dass es sich um Martin Gersdorf handelte.
Auch der leider nicht mehr existierende elegante Tabakverkaufsstand mit Ausstellungsvitrinen stammte von Gersdorf, wie die Pläne belegten. Andere Objekte, wie die Tische, hatte Heinz Zimmermann entworfen.
Wir holten die Tische aus den „Bergen der Überlieferung“, reinigten sie und nutzen sie in der Ausstellung wieder in ursprünglicher Funktion und an annähernd gleicher Stelle. Nach der Ausstellung übernahmen wir einen Tisch sowie eine von Gersdorf mit Bullaugen gestaltete Tür in den Bestand des Stadtmuseums.
Und dann noch eine Überraschung: Ein Besucher der Ausstellung meldete sich und berichtete, dass der Entwerfer sein Schwiegervater sei. Und, was nicht ganz selbstverständlich war angesichts des Geburtsjahrs 1927: Er sei wohlauf, verfüge über eine wohl sortierte Fotodokumentation seines Schaffens und sei zudem bereit, Besuch zu empfangen. So kam es bald zu einem Kennenlernen und Austausch und schließlich 2022 zur Schenkung der Fotodokumentation sowie einiger schriftlicher Unterlagen und Objekte an das Stadtmuseum Dresden. 250 Fotos und Schriftstücke wurden digitalisiert und sind in der Online-Datenbank der Museen der Stadt Dresden abrufbar: www.dresden-collection-online.de.
Mit dem „pick-nick“ fing also 2021 alles an. Die Pläne und Fotografien aus dem Vorlass Gersdorfs dokumentieren über das „pick-nick“ hinaus seine innenarchitektonischen Arbeiten im Stadtzentrum von Dresden für den VEB Hochbauprojektierung. Deutlich wird, dass Gersdorf seit den 1950er Jahren an den prominentesten Großprojekten Dresdens beteiligt war: an der neu errichteten Magistrale Ernst-Thälmann-Straße und am umgestalteten Altmarkt genauso wie an der Groß-Gaststätte „Am Zwinger“ („Freßwürfel“) sowie an den international relevanten Projekten Prager Straße, Webergasse und Straße der Befreiung.
Biografie
Martin Gersdorf wurde 1927 in Hellerau geboren und trat dort in den Kriegsjahren 1942 bis 1945 seine erste Ausbildung an: eine Möbeltischlerlehre in den Deutschen Werkstätten Hellerau. Doch er wollte weiter und meldete sich daher 1949 zur Aufnahmeprüfung an der Staatlichen Hochschule für Werkkunst bei Mart Stam an. Eine Phase des Umbruchs und der Neudefinitionen: Damals wurden unter dem kurzen Direktorat Stams gerade die Hochschule für Werkkunst und die Akademie der Bildenden Künste zur Hochschule für Bildende Künste vereinigt. 1953 schloss Gersdorf sein Studium mit dem Diplom für Raumgestaltung ab.
Im Anschluss nahm er seine berufliche Tätigkeit als Innenarchitekt im Entwurfsbüro für Hochbau in Dresden auf. Sie sollte fast vier Jahrzehnte andauern und führte dazu, dass Gersdorfs Handschrift zahlreiche prominente Stellen in Dresden prägte.
Frühe Ladengeschäfte
Von 1955 bis 1964 richtete Gersdorf Geschäfte auf der damaligen Ernst-Thälmann-Straße (heute Wilsdruffer Straße), am Altmarkt, in der Weißen Gasse und der Gewandhausstraße ein. Hier entstanden Bekleidungs- und Lebensmittelgeschäfte, Tabakläden, ein Reisebüro und Läden für weitere Objekte wie Lampen, Waschmaschinen, Stoffe, Büro-und Nähmaschinen sowie Porzellan.
Gastronomische Einrichtungen
Hinzu kamen in den 1960er Jahren auf der Grunaer Straße das vielbesuchte „pick-nick“, am Postplatz die besonders prominente HO-Gaststätte „Am Zwinger“ mit ihren zahlreichen Einzeleinrichtungen von der „Mokkabar“ bis zum „Radeberger Keller“. Es handelte sich mit 1.465 Plätzen und 380 Mitarbeitern um den größten Gaststättenkomplex der DDR! Hier arbeitete Gersdorf teilweise mit Theo Wagenführ zusammen.
An der Schloßstraße/Brüdergasse richtete Gersdorf noch ein Eiscafé und ein Schreibwarengeschäft ein.
Weitere Ladengeschäfte
Ein weiteres prominentes Betätigungsfeld bot sich für Gersdorf an der Wallstraße und in der Webergasse. Hier konnte er bis 1971 sieben Geschäfte mit Angeboten vom Kosmetiksalon bis zum Briefmarken- und Sammlerbedarf gestalten.
Prager Straße
Das international bekannteste und bedeutendste Großprojekt, an dem Gersdorf mitwirkte, war wohl die Prager Straße. Hier gestaltete er neben anderen Innenarchitekten wie Heinz Zimmermann, Hans Klötzel und Harry Hirschfeld insgesamt elf Einzelprojekte vom Uhrenladen im Pavillonbau bis zu Restaurants in den Interhotels. Die bekanntesten Beispiele seines Schaffens befanden sich im Gaststättenkomplex „International“.
Straße der Befreiung
Die Erweiterung der Prager Straße nach Norden stellte ab ca. Mitte der 1970er Jahre bis zum Ende der 1980er Jahren die Straße der Befreiung (heute Hauptstraße) bis zum Platz der Einheit (heute Albertplatz) dar. Gersdorf konnte mit der Tagesbar „miniDrink“ und dem „Meißner Weinkeller“ noch einmal beweisen, dass er sowohl eine leichte, elegante Formensprache mit Stahlrohr und geschwungenen Linien beherrschte, als auch rustikaler mit Holz im Gewölbe arbeiten konnte.
Neben den Lokalgestaltungen waren es hier auch Räume im kirchlichen Kontext, für die Formen gefunden werden mussten: Festsaal und Speiseräume sowie Garderoben in der Dreikönigskirche.
Zwei späte Einzelprojekte
Neben diesen Großprojekten treten die Bezirksparteischule in der Maternistraße und das Serumwerk an der Herbert-Bochow-Straße (heute Zirkusstraße) quantitativ zurück. Hier verwendete Gersdorf in beiden Objekten ähnliche kreuzende Deckenelemente und sehr geradlinige Regale sowie Wandgestaltungen aus dunklen Hölzern.
Re: VEB Sächsisches Serumwerk Dresden, Herbert-Bochow-Straße, Foyer vor dem Konferenzraum, um 1985, Fotograf:in unbekannt, Konferenzraum, Stadtmuseum Dresden, SMD/Ph/2023/00226189_229
Im Vorlass Gersdorf befinden sich noch weitere Projektdokumentationen, deren Umfang und Kontext erst noch durch weitere Recherchen zu klären sind. Aber auch so bietet sich schon ein anschaulicher Einblick in sein umfangreiches Wirken für ganz unterschiedliche Anforderungen und im Wandel der Gestaltungssprache von den 1950er Jahren bis in die späten 1980er Jahre. Wir gratulieren damit Martin Gersdorf ganz herzlich zum 96. Geburtstag, den er am 8. November 2023 feiern kann, und danken für die wunderbare Schenkung!
Aktualisiert am 14.06.2024, 10 Uhr
Schade, dass das alles abgerissen wurde!!
Diesen Gedanken hatte ich auch bei der Durchsicht der Fotos. Gerade Ladenlokale und gastronomische Einrichtungen unterliegen aber natürlich extrem den Moden der Zeit. Heute wäre es (wieder) ganz schön hipp – wenn man es denn bewahrt hätte!