Gastbeitrag von Jonas Malzahn
In Vorbereitung der Ausstellung „Platte Ost/West“ schauen wir uns auch die Plattenbauten in Westdeutschland genauer an. Wir machen uns ein Bild von ihnen in „freier Wildbahn“, nachdem wir ihre Geschichten im Dokumenten- und Fotodickicht der Archive aufgestöbert haben. In den Stadt-Dschungeln von Köln, Wolfsburg, München und Hamburg begeben wir uns auf die Pirsch und wollen sehen, wie groß die „Artenvielfalt“ dieser Plattenbauten ist.
In der Literatur ist oft die Rede von rationalisiertem und industrialisiertem Bauen. Doch verbergen sich hinter diesen Worten letztendlich auch Gebäude aus vorgefertigten Betontafeln, die mit großen Kränen auf der Baustelle montiert wurden? Dies herauszufinden ist nicht immer leicht, da viele der Gebäude bereits energetisch saniert wurden, das heißt, ihre Dämmung wurde verbessert. Zu diesem Wärme- bzw. Kälteschutz wurden sie meistens mit einer neuen Schicht Dämmstoff versehen. Hinter dieser und einer weiteren Fassadenhülle aus Putz oder Fassadenplatten zum Witterungsschutz verstecken sich nun die Betontafeln. Ihre einst charakteristischen Fugen – dort wo eine Platte auf die andere stößt – kann man dadurch nicht mehr ablesen. So fällt es heute schwer zu beurteilen, ob das Gebäude aus Platten errichtet oder in herkömmlicher Bauweise gemauert bzw. in Ortbeton1 gebaut wurde. Aufschluss darüber sollen uns Planungs- und Fotodokumente geben wie auch Gespräche mit Expert*innen und Bewohner*innen.
Los geht’s mit dem Zug nach Köln!
Köln Chorweiler – Platte vorgehängt und verkleidet
Unser erster Stopp ist Köln, genauer Köln-Chorweiler, ein Stadtteil im Norden der Rheinmetropole. Hier ragen bis zu 24-geschossige Wohnscheiben in den Himmel, aber auch mäandernde Wohnschlangen gibt es zu bewundern. Der Stadtteil wurde in den 1960er Jahren aus dem Boden gestampft und sollte bis zu 100.000 Bewohner:innen beherbergen. Nach Vorgesprächen mit Planer:innen aus dem Stadtplanungsamt der Stadt Köln und Architekt:innen, die einige der Gebäude momentan sanieren, wissen wir bereits, dass sich hier Gebäude aus vorfabrizierten Betonbauteilen befinden.
Um mehr zu erfahren, haben wir uns mit einem Experten vor Ort im Zentrum Chorweilers verabredet. Herr von Wolf war viele Jahre als leitender Stadtplaner für Chorweiler zuständig und kennt die Entwicklung des Stadtteils sehr gut. In Chorweiler-Mitte, dem Zentrum des Stadtteils, dominieren zwei große Wohntürme den Himmel. Steht man auf dem Pariser Platz, bietet sich der/dem Betrachter:in eine Skyline, die man hier nicht erwartet hätte. Charakteristisch für die Türme sind ihre kantigen Balkonbrüstungen aus Betonfertigteilen.
Herr von Wolf informiert uns darüber, dass das verbaute System eigentlich kein Plattenbau sei, da die Tafeln an ein tragendes Betonskelett gehängt wurden und somit nur die Hülle der Gebäude bilden. Dies müssen wir in den kommenden Untersuchungsschritten überprüfen – unsere Adresse hierfür ist die GAG-Wohnungsbaugesellschaft der Stadt Köln. Sie ist seit 2016 Eigentümerin vieler Gebäude in Chorweiler-Mitte. Nach vielen Jahren der Vernachlässigung durch unseriöse Eigentümer kaufte die GAG die sanierungsbedürftigen Gebäude und ist noch immer dabei, den Bestand zu sanieren. Dann verschwinden die Waschbetonplatten hinter Dämmmaterial und Putz.
Wolfsburg – Autos vom Fließband, aber Plattenbau als Einzelstück
Der nächste Halt unserer Plattensafari ist Wolfsburg. Wurden in der Stadt, in der seit Jahrzehnten Autos am Fließband produziert werden, auch Wohnhäuser industriell hergestellt? Unser Blick richtet sich auf den Stadtteil Detmerode. Dieser wurde als Demonstrationsbauvorhaben des Bundes gebaut. Diese Bauvorhaben wurden speziell gefördert und sollten neue, schnellere, effizientere Bauweisen für den Wohnungsbau in der BRD testen. In den Ausschreibungsunterlagen des städtebaulichen Wettbewerbs für Detmerode aus dem Jahr 1961 steht, dass rationelle und industrielle Bauverfahren eingesetzt werden sollten. Wir besuchen das Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation (IZS)2 sowie das Forum Architektur Wolfsburg3 und natürlich den Stadtteil selbst.
Im IZS haben wir Einsicht in die Planungsunterlagen des Stadtteils und können uns im Bildarchiv Fotos aus der Bauzeit ansehen. Auf diesen Aufnahmen ist zu unserer Enttäuschung zu erkennen, dass viele der Gebäude in Detmerode – Punkthäuser, Wohnzeilen und die Wohntürme mit dem Namen „Don Camillo und Peppone“ im Ortszentrum – in herkömmlicher Bauweise errichtet wurden; man erkennt Schaltafeln und Mauerziegel. Aus den Planunterlagen können wir entnehmen, dass lediglich drei Wohnzeilen des Architekten Dieter Oesterlen4 aus Großtafeln gebaut wurden. Sie werden „Schwedenhäuser“ genannt, da der Architekt das Bausystem aus Schweden importiert hatte. In Skandinavien war man in der Entwicklung der Plattenbau-Verfahren bereits weiter als in Deutschland.
Fotos zeigen, wie ein großer Portalkran die Wandscheiben an ihren Bestimmungsort hebt. Dort werden sie mit Stützen in Position gehalten und die Verbindungsfugen mit Beton vergossen. Die eigentlich baugleichen „Schwedenhäuser“, achtgeschossige Wohnzeilen mit außenliegenden Treppenhäusern, sind heute nicht mehr als Doppelgänger zu erkennen. Eines wurde zu einem Büro- und Gewerbezentrum umgebaut. Die ursprünglichen Waschbetonoberflächen wurden mit Fassadenblechen verkleidet und die Eingangsbereiche großzügiger gestaltet, sodass man das Gebäude nun über eine Freitreppe im Hochparterre betritt und nicht mehr über das Parterre.
Mit dieser Enttäuschung über die raren Plattenbauten in Detmerode im Gepäck, treffen wir im Forum Architektur Wolfsburg Esther Ornat. Sie leitet das Forum im vom finnischen Architekten Alvar Aalto entworfenen Kulturzentrum Wolfsburgs. Sie berichtet, dass es in Wolfsburg über die Stadt verteilt weitere Gebäude aus Betongroßtafeln gibt. Das heißt, wir müssen uns weiter durchs Stadtdickicht schlagen, um die Platten in Wolfsburg zu entdecken. Wir finden sie am Hochring, im Stadtteil Teichbreite und Hohenstein. Die Bauten sind aus verschiedenen Jahrzehnten und unterschiedlichen Bausystemen hergestellt.
Am deutlichsten ist die Bauweise am Hochhaus am Hochring abzulesen. Bereits aus der Ferne kann man durch die Bäume die mit Fliesen beklebten Betontafeln erkennen. Der solitäre Wohnturm erhebt sich mitten im Wald und sieht bis auf das Dachgeschoss noch sehr bauzeitlich aus. Vor Ort kommen wir ins Gespräch mit dem Hausmeister des Gebäudes. Dieser betreut und pflegt den Wohnturm bereits seit 23 Jahren und teilt uns mit, dass es mit dem System der Betonwerke-Niedersachsen errichtet wurde. Die Planer:innen des Unternehmens arbeiteten unter anderem im zu allen Himmelsrichtungen verglasten Dachgeschoss des Hochring-Hochhauses mit Blick über Wolfsburg.
München Neuperlach – Plattenbau mit grünem Herz
In München treffen wir uns mit Herrn Hinteregger. Seine Familie betrieb viele Jahre ein Betonfertigteilwerk mit einem eigenen Großtafelsystem zur Erstellung von Wohnbauten und Parkgaragen. Dieses wurde unter anderem im Stadtteil Neuperlach eingesetzt. Im Firmenarchiv bekommen wir Einblicke in die Fertigung von Betongroßtafeln: der Fuhrpark mit Lastwagen, die die schweren Platten vom Werk auf die Baustelle transportierten und die Fertigungshalle. Hier standen aufgereiht die Schalungstische und von einer zentralen Kontrollstelle wurde die Mischung des Betons gesteuert. Die wichtigsten Maschinen der Firma waren ihre Kräne, ohne die die Platten nicht an ihren Bestimmungsort gelangt wären. In den 1980er Jahren schloss das Unternehmen seine Tore.
Nach diesem Blick hinter die Kulissen der Herstellung sind wir umso neugieriger, wo die Erzeugnisse eingesetzt wurden. Wir machen uns auf den Weg nach Neuperlach im Südosten von München. Hierzu haben wir unterschiedliche Hinweise bekommen, in welchem Ausmaß dort Großtafeln eingesetzt wurden. Wir sind gespannt, welche Platten sich uns bei der Erkundung zeigen werden.
Aus dem Untergrund der U-Bahn auftauchend gelangen wir entlang des Einkaufszentrums zum Zentrum Neuperlachs – einem großen Ring, einer Krone aus Wohngebäuden, die wie ein Gebirge eine große grüne Freifläche in ihrer Mitte umschließt. Eine Parkanlage mit Spielplätzen und Gemeinschaftseinrichtungen, einer Kirche, Schule und Sporteinrichtungen, umschlossen von sattem Grün. Das Gebirge ist aus Betongroßtafeln gefügt, daran haben wir keinen Zweifel. Hinter der grünen Wiese und dem Ring von Bäumen erhebt es sich, die Geschosse ablesbar anhand der Plattenfugen, die Balkone aus Fertigteilen wirken wie Felsvorsprünge.
Auf unserem weiteren Weg durch den Stadtteil begegnen uns vor allem im Osten des Wohnrings weitere „Plattenspezies“. Diverse Wohnbauten, Zeilen, Punkthochhäuser und Blöcke weisen alle Merkmale auf, die auf einen Plattenbau schließen lassen: Material und Fugenbild, Fassadenstruktur und Baukörpergestaltung. Um welches System es sich handelt, muss man für jedes Gebäude einzeln bestimmen, da sie sich nicht gleichen. Die Vielfalt ist hier groß.
Hamburg Steilshoop – Ring an Ring, Plattenbau und Mauerwerk
Vom Süden geht es in den Norden, nach Hamburg. Im Stadtteil Steilshoop baute man nicht nur einen Ring , sondern gleich 20. Wie zwei Flügel schließen sie im stumpfen Winkel in Doppelreihe an das Stadtteilzentrum an. Nicht jeder Ring ist im Montagebauverfahren erstellt. Aber noch kann man sie gut von denen unterscheiden, die in herkömmlicher Bauweise errichtet wurden. Die Waschbetonplatten geben sich zu erkennen. Doch auch in Steilshoop wird bereits zur Steigerung der Energieeffizienz umhüllt. Die Metamorphose beginnt auch hier: Aus den körnigen, bunten, strukturierten Fassaden werden strahlend weiße, glatte Flächen.
Städtebaulich bieten die Wohnringe einen interessanten Kontrast; werden sie von Straßen und Fußwegen umschlossen, fassen sie in ihrem Inneren jeweils einen öffentlich zugänglichen Hof mit Grünanlagen. Über Durchgänge in der Ringbebauung gelangt man von einem zum anderen. Die Wohnringe sind nicht geschlossenen, sondern öffnen sich entweder gen Norden oder Süden. Zu diesen Durchlässen hin steigt die Höhe der Gebäude an. So ergibt sich je nach Standort eine eigene, abwechslungsreiche Silhouette.
Einen besonderen Plattenbau gibt es in Steilshoop: Ein Experiment der Wohnformen, das hier in den 1960er Jahren getestet wurde. Aufgrund der Flexibilität des Bausystems konnten die Bewohner:innen die Grundrisse ihrer Wohnungen gemeinsam mit den Architekt:innen entwerfen. So entstand unter anderem eine große Wohngemeinschaft für mehrere Familien. Das Wohnprojekt umfasste außerdem Wohnungen für kinderreiche Familien und entlassene Straftäter:innen. Organisiert wurde es von den Bewohner:innen selbst. Im Gebäude am Gropiusring befinden sich heute neben den Wohnungen eine Kita und weitere Einrichtungen des Roten Kreuzes. Das Gebäude unterscheidet sich deutlich von den anderen. Seine Fassadenplatten sind in vertikaler Richtung gerillt und weiß gestrichen, horizontale Fensterbänder gliedern die Fassaden.
Nach unserer Entdeckungsreise durch Steilshoop ist unsere nächste und letzte Station erstmal das Hamburgische Architekturarchiv5. Dort haben wir die Möglichkeit, nicht nur Archivalien zum Stadtteil Steilshoop einzusehen, sondern darüber hinaus auch viele Dokumente der „Neuen Heimat“, der größten deutschen gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft, die von den 1950er Jahren bis Anfang der 1980er Jahre die Wohnungsbautätigkeit in der Bundesrepublik maßgeblich prägte. Sie nutzte die Vorfertigung und das serielle, industrielle Bauen mit Betonfertigteilen, um ihre ambitionierten Bauprojekte umzusetzen.
Weiter geht es demnächst in Saarbrücken, Berlin, Kiel, Frankfurt am Main, Dortmund, Stuttgart und weiteren Städten.
Und im Osten? Darum geht es dann im nächsten Blogbeitrag.
Zum Autor
Jonas Malzahn ist freier Kurator und Partner bei studio central – Kuratorische Praxis in Architektur und Urbanistik. Er ist in Forschung und Lehre an der Professur Städtebau und Entwerfen der Bauhaus-Universität Weimar tätig und Co-Kurator der Ausstellung Plattenbau in Ost- und Westdeutschland.
- Ortbeton= „Vor-Ort“ betoniert. Bei dieser Herstellungsweise wird in eine Schalung der Beton gegossen und härtet dort aus ↩︎
- https://www.wolfsburg.de/kultur/geschichte/izs/izs-startseite ↩︎
- https://www.wolfsburg.de/rathaus/stadtverwaltung/76-forum-architektur ↩︎
- https://www.adk.de/de/archiv/news/2012/archivnews_oesterlen.htm ↩︎
- https://www.architekturarchiv-web.de/ ↩︎