Gastbeitrag von Daniel Ristau

Das Interview ist Teil der begleitenden Blog-Reihe zur Intervention Rethinking Stadtgeschichte: Perspektiven jüdischer Geschichten und Gegenwarten in der Dauerausstellung des Stadtmuseums Dresden 2021/2022. Angesichts der aktuellen Überlegungen zu einem Jüdischen Museum für Sachsen kommen an dieser Stelle Akteurinnen und Akteure, die sich mit dem Thema beschäftigen, Vertreterinnen und Vertreter der jüdischen Gemeinden in Sachsen, von Politik und Gesellschaft sowie Expertinnen und Experten mit ihren Standpunkten, Ideen, Kritiken und Perspektiven zu Wort.

Zur Einführung in die aktuelle Museumsdebatte

Der Historiker Steffen Heidrich (Steffen Heidrich)

Zur Person:

Steffen Heidrich hat neue Geschichte und deutsche Literaturwissenschaft studiert.  Im Rahmen seiner Dissertation erforscht er das Jüdische Leben in beiden deutschen Staaten nach 1945. Aktuell ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Mittleres und Östliches Europa an der Technischen Universität Dresden. 2014 gehörte er zu den Mitgründer*innen des Netzwerkes Dresden für Alle und engagiert sich darüber hinaus in verschiedenen Vereinen für das literarische Leben und ein Miteinander auf Augenhöhe in der städtischen Migrationsgesellschaft.

(1) Was halten Sie von der Idee, ein „jüdisches Museum“ in Sachsen einzurichten?

Ein Jüdisches Museum, das als Bildungsträger funktioniert, ganz gezielt auf die Anforderungen der heutigen pluralen Migrationsgesellschaft im Medienzeitalter ausgerichtet ist und dieses mit einem Bildungsauftrag der heranwachsenden Generation(en) verbindet, kann in Sachsen und darüber hinaus in Ostdeutschland einen wichtigen Beitrag leisten. Leider ist es ja so, dass das Wissen über Judentum und jüdisches Leben in der breiten Gesellschaft nur ungenügend vorhanden ist. Das fängt, wie Studien immer wieder zeigen, schon in der unzureichenden Bearbeitung und Vermittlung in der Schule an. In Ostdeutschland und hier gerade in Sachsen haben wir darüber hinaus im bundesweiten Vergleich die höchsten Zustimmungswerte zu antisemitischen Aussagen. Jüdische Geschichte als Geschichte der Region, als Geschichte Sachsens, Böhmens und Schlesiens erfahrbar zu machen, ist neben vielen weiteren ein Ansatz, um hier in die richtige Richtung zu steuern.

Letztlich erfordert die ernsthafte Auseinandersetzung mit unserer Geschichte auch eine würdigende Repräsentation und Sichtbarmachung der Leistungen von Jüdinnen und Juden. Ein jüdisches Museum kann hier ganz gezielt dem doppelt schwierigen Umgang mit dem jüdischen Erbe entgegenwirken. Damit meine ich zum einen die Tendenz, sich Jüdisches als Teil des nationalen oder regionalen Gedächtnisses anzueignen und das Jüdische dabei unsichtbar zu machen, zum anderen die Auseinandersetzung mit jüdischer Geschichte und Judentum einzuengen, nämlich vor allem auf Religion und die Shoah.

(2) Wo und wie sollte jüdische Geschichte und Gegenwart zugänglich gemacht werden?

Ein Jüdisches Museum braucht Orte der Vermittlung. Ein solcher Ort ist heute der digitale Raum, die Welt der Podcasts, des Storytellings, der audiovisuellen Aufarbeitung und Vermittlung. Er ersetzt jedoch nicht den haptisch erfahrbaren Raum. Ein Museumskonzept sollte hier den Mut haben, keinen Leuchtturm zu schaffen, sondern ausgehend von einem Zentrum zur Wissensvermittlung und zum Diskurs über Historie, Gegenwart und Zukunft jüdischen Lebens Orte erfahrbar zu machen, in vielen Fällen vielleicht auch nur temporär. Ein solches Zentrum würde darüber hinaus auch nicht im leeren Raum entstehen, sondern könnte und sollte aus dem bisher Geschaffenen, etwa den Angeboten des Vereins HATiKVA e.V. in Dresden, schöpfen, sowohl räumlich als auch didaktisch und fachlich. Die Idee des authentischen Ortes ist für mich hier durchaus weiterhin reizvoll. Wir besitzen solche Orte aber nicht nur in Städten wie Dresden, Leipzig oder Chemnitz, sondern auch im ländlichen Raum. Ein Jüdisches Museum sollte hier in der Lage sein, mit temporären und regionalen Ausstellungs- und Vermittlungskonzepten immer wieder auf die Suche zu gehen und damit auch dorthin strahlen, wohin der Leuchtturm nicht reichen würde.

Im Gespräch ist im Moment immer wieder das Gelände des Alten Leipziger Bahnhofs als Ort eines jüdischen Museums. Dies halte ich aus zwei Gründen für absolut ungeeignet:

a)         Der Ort der Deportationen strukturiert die Geschichte des jüdischen Lebens vor. Gleich einer Schablone würde sich die Singularität der Vernichtung im Holocaust über alle Formen des Erzählens einer jüdischen Geschichte der Region legen. Aber jüdische Geschichte ist so viel mehr. Es ist eine Handelsgeschichte, eine Migrationsgeschichte, eine Geschichte der Bildung und Ideen, auch eine Geschichte der Arbeiterbewegung, um nur einige Beispiele zu nennen. Jede dieser Geschichten beinhaltet sicher auch die Shoah. Von ihr ausgehend lassen sich diese Geschichten jedoch nicht mit der notwendigen Offenheit erzählen, die ein lernender Blick braucht.

b)         Der zweite Grund ist eine grundsätzliche erinnerungskulturelle Frage. Der Alte Leipziger Bahnhof war Ort der Deportationen und damit Ausgangspunkt der Vernichtung für tausende Jüdinnen und Juden. Er war darüber hinaus aber auch Umschlagort für Zwangsarbeiter*innen, Kriegsgefangene aller möglichen Nationalitäten, für Rüstungsgüter und als solcher in die Ökonomie des Zweiten Weltkriegs eingebunden, die der totalen Verwertungslogik der nationalsozialistischen Vernichtungsfantasie unterlag. Auch dieser Teil gehört in einen Gedenkort Alter Leipziger Bahnhof. In gewissem Sinne bildet sich hier auch die Achse zu den Goehle-Werken, dem heutigen Zentralwerk, etwa einen Kilometer nordwestlich gelegen. Als Ort der Ausbeutung, Zwangsarbeit und Rüstungsindustrie mussten hier erst Jüdinnen und Juden, nach deren Deportation und Ermordung dann ‚ausländische‘ Zwangsarbeiter*innen schuften. Beides ließe sich erinnerungskulturell sicher verknüpfen, da im Zentralwerk ein kulturelles Cluster angesiedelt ist, das bisher bereits einige Anstrengungen zur historischen Aufarbeitung der Geschichte des Gebäudes unternommen hat. Ein großes Jüdisches Museum am Alten Leipziger Bahnhof würde diesen Teil des Gedenk- und Erinnerungsortes überschreiben und verblassen lassen. Das finde ich bedenklich.

 (3) Was kann und was sollte präsentiert werden?

Bereits angesprochen habe ich die Vielfalt der Erzählungen und Geschichten des Jüdischen in der Region. Die Chance eines Museums in der Drei-Länder-Grenzregion sehe ich vor allem in der transnationalen und transkulturellen Perspektive, die der jüdischen Lebenswirklichkeit durch die Jahrhunderte – einer Wirklichkeit, die von hoher Mobilität, Anpassung und Abgrenzung, Brüchen und Blüten innerhalb der verschiedenen Gesellschaften – gerecht wird. Es spricht aus ihr auch ein europäischer Geist. Ein Museum muss darüber hinaus die Vielfalt jüdischer Identitäten widerspiegeln. Bezogen auf das 19. und 20. Jahrhundert war Dresden durchaus ein Ort einflussreicher Rabbiner der Emanzipationszeit. Allen voran ist hier natürlich Zacharias Frankel zu nennen, der sich für die konservative Reform der jüdischen Liturgie einsetzte. Gleichzeitig gilt es auch, säkulare Bezüge und die zionistische Bewegung einzubeziehen und in Zusammenhang mit den Veränderungen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen zu bringen. Das Besondere am regionalen Blickwinkel ist gerade, dass es einen gewählten und differenzierten Blick ermöglicht. Es gilt auch, die jüdische Geschichte nach 1945 bis in die Gegenwart zu beleuchten und jüdisches Leben heute zu thematisieren. Die jüdische Geschichte in der DDR war abseits dichotomer Zuschreibungen von einer „Assimilation in der Diktatur“ komplexer, als wir oftmals annehmen. In Sachsen existierten drei der acht jüdischen Gemeinden. Wir erleben aktuell eine auch öffentlich sichtbare Pluralisierung, angestoßen durch den Zuzug osteuropäischer Kontingentflüchtlinge, aber auch aus Israel und anderen Ländern. Jüdisches Leben ist exemplarisch für unsere postmigrantische Gesellschaft. Dies ist eine produktive Quelle für eine zeitgemäße Auseinandersetzung mit den Herausforderungen unserer Gegenwart und Zukunft.

(4) Wer soll erreicht werden?

Ich stelle mir vor, dass ein Jüdisches Museum mit seinen Angeboten in der Fläche nicht nur Tourist*innen oder die Dresdner Bevölkerung erreicht, sondern vor allem auch in den ländlichen Raum nach Ostsachsen strahlt. Gezielt adressieren sollte es die junge Generation. Wir wissen heute, dass das Wissen über Judentum, aber auch über die deutsch-jüdische Geschichte und über den Holocaust deutlich gesunken ist und fast jährlich weiter sinkt. Mit Angeboten, die sich aus dem Konzept der mittlerweile historischen Erinnerungskultur lösen und im Sinne einer postmigrantischen Realität eine allgemeingültige und multiperspektivische Aufarbeitung insbesondere der Zeit des Nationalsozialismus anbieten, können auch jüdische Erzählungen, etwa der aus Osteuropa kommenden Gemeindemitglieder, inkludiert werden. In der Dresdner Jüdischen Gemeinde wird zum Beispiel der 9. Mai nicht nur als Tag der Befreiung, sondern auch als Tag des Sieges gegen Nazideutschland gefeiert, weil dort die Erinnerung des Kampfes jüdischer Soldaten gegen Hitler präsent ist.

(5) Wenn Sie ein museales Objekt auswählen könnten, das Sie als besonders aussagekräftig für Geschichte und Gegenwart jüdischen Lebens halten, welches wäre das – und warum?

Das wird jetzt nicht überraschen, es ist der Davidstern, der heute über dem Portal zur Neuen Synagoge eingelassen ist. Das Spannende an ihm sind die zahlreichen Erzählungen, die er in sich trägt. Als eine der Spitzen der ehemaligen Sempersynagoge symbolisierte er das gewachsene Selbstbewusstsein der jüdischen Community in der Stadt. Als Zeichen umspannte er einhundert Jahre wechselvolle jüdische Geschichte von der Emanzipation bis zur Verfolgung. Seine Abnahme am Tag nach der Pogromnacht symbolisiert als Akt den Bruch, den das Judentum im Nationalsozialismus erlebte und der in die systematische Ermordung von Jüdinnen und Juden, aber auch zur Vernichtung ihrer (materiellen) Kultur führte. Der Davidstern wurde bekanntlich „gerettet“, bewahrt und 1946 der jüdischen Gemeinde zurückgegeben. Sein Anbringen auf die Kuppel der zwischenzeitlichen Synagoge am Rande des Neuen Israelitischen Friedhofs war für die Post-Shoah-Gemeinde ein Ausdruck von Selbstbehauptung, eines „Wir sind da!“. Heute ziert das Relief des Davidsterns auch das Logo der Jüdischen Gemeinde zu Dresden. Gleichzeitig diente die Geschichte seiner Rettung als „Entlastungserzählung“ für unsere Dresdner Stadtgesellschaft. Anhand des Objektes lassen sich also zahlreiche Geschichten erzählen, die auch sehr viel über uns Nichtjuden und unser manchmal problematisch vereinnahmendes Verhältnis zur jüdischen Geschichte und zu Symbolen verraten.

Der Davidstern der 1938 zerstörten Sempersynagoge im Eingangsbereich der Neuen Synagoge zu Dresden (Daniel Rohde-Kage, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en)

(6) Was sollte in der Debatte um ein Jüdisches Museum als nächstes passieren?

Meiner Meinung nach ist der nächste Schritt ein inhaltliches Konzept. Es nützt nichts, über Räume und Standorte zu diskutieren, wenn man sich nicht vorher auf breiter Basis darauf geeinigt hat, was ein Jüdisches Museum, vielleicht auch ein Forum zur jüdischen Kultur und Geschichte, leisten soll und was nicht. Denn daraus ergeben sich erst die Anforderungen an Ort, Profil und natürlich an Finanzen, die sich deutlich besser einwerben lassen, wenn glasklar ist, was wir am Ende umsetzten wollen. Ich denke, ein grobes Konzept lässt sich zeitnah entwickeln. Es kann in Formatsonden auch bereits ohne festes Gebäude getestet werden: Temporär (hinsichtlich von Zeit und Ort) und digital. Es beschränkt auch die zunächst notwendigen finanziellen Investitionen und stellt das ganze Vorhaben vom Kopf auf die Beine.

Diese Grußkarte zum Neujahr sendet die Tochter eines emigrierten Gemeindemitglieds aus Sao Paolo 1963 an die Jüdische Gemeinde zu Dresden (Archiv des Landesverbands Sachsen der Jüdischen Gemeinden)