Wer die Dauerausstellung des Stadtmuseums besucht, kann in drei großen Räumen die Entwicklung Dresdens von der Besiedlung des Elbtals im Mittelalter bis zur Friedlichen Revolution im Herbst des Jahres 1989 nachverfolgen. Historische Gegenstände, schriftliche Dokumente, Fotografien sowie Audio- und Videostationen ermöglichen Besucher:innen, sich mit unterschiedlichen Aspekten der Stadtgeschichte auseinanderzusetzen.
Zwei spezielle Architekturmodelle ergänzen seit kurzem die inzwischen fast 20 Jahre alte Ausstellung. Es handelt sich um Tastmodelle, welche die ehemalige Zigarettenfabrik Yenidze und die von Gottfried Semper erbaute Synagoge darstellen. Hier gilt ausdrücklich: Anfassen und mit den Händen erforschen erwünscht! Im Gegensatz zu quasi allen anderen Exponaten, die aufgrund ihres Alters und ihres Charakters als historische Sammlungsgegenstände des Museums nur betrachtet werden dürfen. Warum wurden diese Spezialmodelle angefertigt? Für wen sind sie gedacht? Welche Informationen vermitteln sie und welche Tücken gab es bei der Entwicklung?
Das Modell der Yenidze
Das Modell der ehemaligen Zigarettenfabrik entstand ursprünglich für die 2021 gezeigte Sonderausstellung „Tabakrausch an der Elbe. Geschichten zwischen Orient und Okzident“1. Wir wollten den Besucher:innen damals die Möglichkeit geben, sich mit dem Ausstellungsthema nicht nur auf visueller und auditiver Ebene auseinanderzusetzen, sondern auch auf haptischer. Die ehemalige Zigarettenfabrik Yenidze schien dafür gut geeignet.
Das überregional bekannte Bauwerk steht wie kein anderes exemplarisch für die Bedeutung, die Dresden um 1900 als „Zigarettenhauptstadt“ Deutschlands zukam. Zudem ist das Gebäude in seiner äußeren Gestalt zwar bekannt, das Innere und die Nutzung als Fabrik aber kaum. Daher sollte ein Modell in der Art eines Baukastens gefertigt werden. Die Besucher:innen könnten dann auf spielerische Weise neben der besonderen äußeren Form des Gebäudes auch eine Vorstellung vom Inneren und den Funktionen erhalten.
Mit dem haptischen Zugang hofften wir auch Personen zu erreichen, für die in unseren Ausstellungen bisher nur wenig erfahrbar war: blinde Menschen und Menschen mit Sehbehinderungen. Im besten Falle wäre solch eine inklusive Vermittlungsstation für alle nutzbar: sowohl für Menschen mit als auch für Menschen ohne Seheinschränkungen.
Für die Umsetzung wandten wir uns an die Designagentur Tactile Studio, die in diesem Bereich viel Erfahrung besitzt. Entscheidend war darüber hinaus die Zusammenarbeit mit dem Blinden- und Sehbehindertenverband Sachsen e.V.. Durch ihn konnten wir wertvolle Einblicke in die Bedürfnisse und Anforderungen der Betroffenen gewinnen. Schnell stellte sich heraus: Die ursprüngliche Idee eines Baukastens ist für blinde Menschen wenig praktikabel, denn das Zusammenfügen von Einzelteilen zu einem Gebäude setzt eine genaue Vorstellung von dessen Aussehen voraus. Stattdessen entstand eine zweigeteilte Vermittlungsstation, die sowohl für Menschen mit als auch ohne Sehbehinderung nutzbar ist.
Die eine Hälfte der Station bildet das taktile, also ertastbare Modell der Yenidze. Es dient dazu, eine Vorstellung von der Größe und der äußeren Form des Bauwerks zu erhalten. Darüber hinaus sind architektonische Details in Form von Reliefzeichnungen wiedergegeben.
Informationen zur Benutzung der Station sowie zur Geschichte des Gebäudes lassen sich per Knopfdruck über angeschlossene Kopfhörer anhören. Die zweite Hälfte der Station dient der Vermittlung des inneren Aufbaus und der Funktion der Räumlichkeiten. Sie besteht aus einem taktilen Querschnitt des Gebäudes, der die Lage der einzelnen Stockwerke verdeutlicht.
Über einzelne Steckkarten lassen sich darüber hinaus sowohl visuell in Form von Text und historischen Fotos als auch per Audio Informationen zu einzelnen Räumen und Funktionsbereichen abrufen.
Der Aufwand für die komplexe Station war finanziell und personell sehr hoch. Ohne Fördermittel auf lokaler und auf Landesebene wäre es nicht gegangen. Von Anfang an war daher auch geplant, sie nicht nur in der Sonderausstellung einzusetzen, sondern sie im Sinne der Nachhaltigkeit nach dem Ende der Ausstellungslaufzeit in die Dauerausstellung zu integrieren. Inzwischen hat sie dort ihren Platz gefunden und ermöglicht umfassende Einblicke in ein Kapitel der Stadtgeschichte, das in dieser Form vorher in der Ausstellung nicht präsent war.
Das Modell der Sempersynagoge
Auch das zweite taktile Architekturmodell entstand zunächst für eine temporäre Präsentation, diesmal für die Intervention „Rethinking Stadtgeschichte. Perspektiven jüdischer Geschichten und Gegenwarten“2. Inzwischen ist es die zweite Station, an der blinde Menschen die Möglichkeit haben, Ausstellungsinhalte zu erfassen. Aus finanziellen Gründen wurde die Station der Sempersynagoge jedoch zunächst als einfaches Tastmodell entwickelt mit der Perspektive, schrittweise um weitere Funktionen ergänzt zu werden.
Die Mitte des 19. Jahrhunderts von Gottfried Semper errichtete Synagoge existiert heute nicht mehr. Sie wurde im November 1938 von den Nationalsozialisten zerstört. Um das historische Gebäude dennoch möglichst wirklichkeitsgetreu als Modell im Maßstab von 1:100 wiederzugeben und dabei die neuesten wissenschaftlichen Forschungsergebnisse zu berücksichtigen, wandten wir uns an die Universität Darmstadt. Dort werden im Fachgebiet Digitales Gestalten seit Jahrzehnten Synagogen virtuell rekonstruiert, die während des Nationalsozialismus zerstört wurden.3 Die Grundlage für das mit der Berliner Agentur Inkl. Design entwickelte 3D-Modell der Dresdner Synagoge bilden historische Abbildungen und Architekturpläne.
Auch bei diesem Projekt konnten wir auf Personen des Blinden- und Sehbehindertenverbandes zählen, die ihre Expertise einbrachten. Anhand eines Prototypen testeten sie die Detailgenauigkeit und die Größenverhältnisse und gaben Empfehlungen zur kontrastreichen Farbgestaltung.
Am schwierigsten gestaltete sich dabei die Ausformung der Davidsterne auf den Dächern. Sie mussten recht filigran sein, durften aber auch nicht sofort brechen. Trial and error führten schließlich zu einer für alle Seiten akzeptablen Lösung.
Aussichten
Die beiden taktilen Architekturmodelle sind ein wichtiger Schritt des Stadtmuseums in Richtung Barrierefreiheit. Sie sind damit Teil einer größeren Strategie, die das Museum in seinem Leitbild als Grundprinzipien formuliert: Inklusion, Teilhabe und Diversität. Wir sind der Bürgerschaft Dresdens und seiner Umgebung verpflichtet und möchten daher die verschiedenen Bedürfnisse, Interessen und Ansprüche der Nutzer:innen berücksichtigen. Ein erster Schritt soll dabei die Ermöglichung der Teilhabe blinder und seheingeschränkter Menschen sein.
Noch fehlt im gesamten Haus ein inklusives Leit- und Orientierungssystem – eine wichtige Voraussetzung für einen selbstbestimmten Museumsbesuch! Auch sind die Ausstellungen noch nicht multisensorisch angelegt, sondern fast ausschließlich auf visuelle Zugänge angelegt. Daran müssen und wollen wir noch arbeiten! Die beiden taktilen Vermittlungsstationen sind nur ein erster Auftakt zur Verbesserung der Situation.
Zukünftig werden die Stationen auch in eine per App oder per Multimediaguide nutzbare Audiodeskriptionsspur durch die Dauerausstellung des Stadtmuseums eingebunden. Sie soll Nutzer:innen, die mit einer Begleitperson ohne Seheinschränkung das Museum besuchen, anhand ausgewählter Stationen in die Ausstellung und deren Themenbereiche einführen. Präsentiert wird eine detaillierte Beschreibung des Museumsgebäudes, der einzelnen Ausstellungsräume und ausgewählter Exponate und deren historischer Kontext. Zudem gibt es Angaben zur räumlichen Orientierung, sodass blinden und sehbehinderten Menschen das Auffinden und Nutzen der taktilen Vermittlungsstationen in der Ausstellung überhaupt ermöglicht wird.
Die Spur wurde mit der Agentur Verso – einer Agentur, die sich für den Gebrauch einer verständlichen Sprache einsetzt – und der Agentur he´ Die Hörerlebnis Agentur entwickelt. Sie ist so aufgebaut, dass sie zukünftig um weitere Inhalte ergänzt werden kann. So wird gewährleistet, dass neue Exponate und Ausstellungsinhalte in die Spur integriert und somit von blinden und sehbehinderten Museumsgästen wahrgenommen werden können.
Inklusion im Museum ist ein fortwährender Prozess. Er muss immer weiter verbessert und ausgebaut werden, um Geschichte nicht nur zum Sehen und Hören, sondern auch zum Anfassen zu ermöglichen!